Klangwerkstatt Berlin

Festival für Neue Musik


1. bis 18. November 2018

Samstag 17.11.

Kafkas Heidelbeeren

20 Uhr Ballhaus Ost

Imaginäres Vokal- und Instrumentaltheater von Matthias Kaul (2005)

Ensemble L’ART POUR L’ART: Ute Wassermann – Stimme | Beate von Hahn – Sopran | Torsten Schütte – Akteur | Astrid Schmeling – Flöten | Michael Schröder – Gitarre, E-Bass | Matthias Kaul – Perkussion, Glasharmonika | Stefan Troschka – Klangregie

Kafkas Heidelbeeren, Photo: Regine Heiland
Kafkas Heidelbeeren, Photo: Regine Heiland

Leicht kann man bei der Entschlüsselung von Palimpsesten die Orientierung verlieren. Nicht umsonst verstehen die Mediziner unter Palimpsest den klassischen „Filmriss“, die alkoholbedingte Amnesie. In Kafkas Heidelbeeren scheinen nun alle Filme gerissen und immer wieder neu zusammengesetzt worden zu sein. Palimpsest, Collage, Rondo, egal mit welchen Techniken oder Formen dieses Stück hervorgebracht wurde, die Linearität (deren angebliche Existenz sowieso eine lächerliche Behauptung ist) spielt an diesem Abend überhaupt keine Rolle. Getreu dem Gedanken Kafkas „…dass immer wieder alles neu ist, da es zu einer anderen Zeit an einer anderen Stelle scheinbar gleich wieder auftritt…“ tauchen Texte von Henri Michaux, dem belgischen Surrealisten, Roland Barthes, dem etwas weitschweifigen Denker, und eben Franz Kafka immer wieder aus anderen Mündern, falschen Körpern und an anderen Orten wieder auf. Mit der Musik ist es ähnlich. Wie in dem Film „Der Sinn des Lebens“ von Monty Python der Vorfilm unversehens im Filmgeschehen wieder auftaucht, platzt in Kafkas Heidelbeeren zum Beispiel die Ouvertüre immer mal wieder wie ein Rückfall in die musikalische Entwicklung hinein. Wobei man kaum versteht, wer spielt, sind es die Musiker, ist es Playback, was hören wir?

Zwei Lieder von Franz Schubert, „Täuschung“ und „Der Wegweiser“, helfen auch nicht weiter. Eines der Lieder erscheint sowieso nur rückwärtslaufend und kann allerdings so seine Botschaft noch viel eindringlicher hervorbringen. Fragen stellen sich: Führt eine Fragmentierung von Unsinn zwangsläufig zu Sinn und umgekehrt die Fragmentierung von Sinn in jedem Fall zu Unsinn? Egal. Als Finale rät Kafka zur Sesshaftigkeit, er erkennt die reichbehängten Heidelbeerpflanzen als großartig genug, um sich zu setzen und sie zu ernten. Diese Botschaft wird auf Spielzeugautos mit einer sogenannten Anstoß-Umkehrmechanik durch den Raum gefahren. Diese Mechanik funktioniert so, wie so oft unsere alltägliche Kommunikation: trifft jemand auf Substanz, so bewegt er sich sofort in entgegengesetzter Richtung weiter, zurück, voran, oder…?

Die Vokalisten haben einen Lautsprecher im Mund, so dass auch falsche Stimmen und normalerweise nicht realisierbare Klänge aus ihren „Leihkörpern“ kommen können. Wie in Wahlverfahren üblich, können sie ihre Stimme auch abgeben….

Nicht computergesteuerte Hightech-Ausrüstung, sondern fragile Lowtech wie Feedbackflaschen, ein obertonmodulierender Kochtopf, Mundlautsprecher, Telefonhörer, Staubsauger und die von Spielzeugautos bewegten Lautsprecher erweitern die klanglichen Möglichkeiten des Ensembles. Ein Stück voller richtig falscher Assoziationen, Irrwege und Stillstände.

Nur so viel bleibt sicher: Orientierungslosigkeit kann auch an Schönheit vorbeiführen. (Matthias Kaul)