4. bis 13. November 22

Kunstquartier Bethanien

Editorial 2022

Schönheit

„Waß aber dy schonheit seÿ, daz weis jch nit.“ Dieser berühmte, über 500 Jahre alte Satz von Albrecht Dürer entlastet Künstlerinnen und Künstler bis heute: Wenn dieser Meister schon nicht wusste, was Schönheit sei, wer dann? Und also kann oder muss sie auch nicht das Ziel von Kunst sein. Dürers Seufzer ist umso bemerkenswerter, als zu seiner Zeit die Vorstellung herrschte, Schönheit sei integraler, gottgegebener Teil eines Kunstwerks selbst.

Erst über 250 Jahre später entkoppelte Immanuel Kant Werk und Schönheit explizit. Schönheit sei eben keine objektive Eigenschaft der Dinge selbst, sondern begründe sich in der Art, wie sie uns erscheinen und wie wir sie empfinden. Die Geburtsstunde des „Geschmacks“. Schönheit in der Kunst ist nicht beherrschbar. Vielleicht bildet sie sich durch Aufrichtigkeit dem Metier gegenüber und dem gelungenen Zusammenwirken der Mittel, von Sujet, Material, Methode, Energie, …

In diesem Sinne ist Schönheit als Motto der Klangwerkstatt Berlin 2022 keine Weltflucht in einer Zeit des Krieges, der Klimakrise und der daraus resultierenden globalen Verwerfungen. Die Frage nach Schönheit ist nicht nur legitim, sondern geradezu zwingend. Denn Schönheit und Wahrhaftigkeit bedingen einander. So wollen alle Werke des Festivals unter diesem Aspekt gehört und gesehen werden. Der Titel bietet die Möglichkeit, die Wahrnehmung dorthin auszurichten.

Und schön kann eben auch sein, was Brutalität und menschliche Abgründe in der Kunst thematisiert. Luigi Nonos Schlüsselwerk Quando stanno morendo. Diario Polacco no. 2 entstand 1982 unter dem Eindruck der Niederschlagung der Solidarność-Bewegung in Polen. Der Kern des politischen Gehalts dieses Werks liegt nicht in der Benennung des Unrechts, sondern in der Konzentration auf subtile Veränderungen der klanglichen Texturen. Sie richten sich an die Aufmerksamkeit der Hörenden, an ihre Sensibilität und letztendlich an ihre Empathiefähigkeit. Die Schönheit dieser Musik liegt in ihrer Unbedingtheit, in ihrer Intensität und in ihrer geradezu naturhaften Erscheinung.

Mit Elżbieta Sikoras The Sixth Commandment steht ein weiteres Werk auf dem Programm, das sich explizit gegen politische Gewalt positioniert. Das neue Stück von Helmut Oehring beschäftigt sich mit den Höllenvorstellungen Dantes, die er aktualisiert und mit Reden von Putin und Lawrow verbindet. Auch Stefan Streichs Stück Verstimme Dein Instrument deutlich entstand als eine direkte künstlerische Reaktion auf den Kriegsbeginn in der Ukraine und durchzieht das Programm des Festivals wie ein roter Faden.

Schönheit kann uns – im Wortsinn – ergreifen. Sie lässt uns das Unbekannte im Gewohnten entdecken. Damit ist sie ein Akt der Selbstermächtigung und der Freiheit. Schönheit betrifft den Menschen ganz.

Stefan Streich, Nina Ermlich