Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Sonntag 6.11., 20.00 Uhr – Videodokumentation

Donner, danach

Ensemble Apparat

© Joel Sternfeld
© Joel Sternfeld

Programm

  • Stefan Beyer
    FlurUA(2021/22)
    für BlechbläserquintettAuftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Yoshiaki Onishi
    jeux enjeuxUA(2022)
    für BlechbläserquintettAuftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Max Murray
    Donner, danachDEA(2021)
    for modern trumpet in C, natural trumpet in C, natural horn in C-Alto, and electronics
  • Michelle Lou
    lie beneath the grassUA der Neufassung(2021, heavily revised 2022)
    für Blechbläserquintett
  • Interview
    Yoshiaki Onishi und Stefan Beyer im Gespräch mit Leonie Reineke
  • Interview
    Max Murray und Michelle Lou im Gespräch mit Leonie Reineke

Ensemble Apparat

Mathilde Conley, Paul Hübner – Trompete | Samuel Stoll – Horn | Wojciech Jeliński – Posaune | Max Murray – Tuba


Das Programm des Berliner Blechbläserquintetts Ensemble Apparat knüpft an Sujets der Romantik an: Es präsentiert Stücke, die assoziative Naturphänomene und -bilder schon im Titel tragen. Das Programm vereint vier Werke der jüngeren Komponist:innengeneration aus Deutschland, den USA und Kanada.

Flur (UA) des Berliner Komponisten Stefan Beyer (*1981), Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin, bezieht sich vordergründig auf die verklärende Natur-Sicht des 19. Jahrhunderts. Statt eines Werkkommentars zitiert der Komponist aus den Entdeckungsreisen in Feld und Flur von Hermann Wagner, einem beliebten Jugendbuch mit Textsammlungen, das 1863 in Leipzig erstmals erschien:

Rings um Stadt und Dorf breiten sich Felder und Wiesen aus und die blühende Flur heißt dich mit Blumenduft, bunten Schmetterlingen und singenden Lerchen willkommen!

‚Wie reizend, wie lieblich grünet und blühet die Wiese!‘ so rufen die Spaziergänger, wenn sie am Sonntag an der frischgrünen, mit Blumen bedeckten Matte vorbei kommen. ‚Sie gleicht einer prächtigen Sammtdecke, die mit den herrlichsten Farben gestickt ist, und die Thautropfen sind die Perlen und Edelsteine daran!‘ So sagen sie und gehen dann weiter nach dem Wirtshaus.

Wie wallet und wogt die herrliche Saat! Ein Meer aus Halmen, schwankt sie und wankt sie, wenn der Engel des Windes mit seinem Fittig darüber streift.

Hörst du, wie’s lispelt und plispelt: ein geheimnisvolles Säuseln und Rauschen über das weite Gefild!

Der japanisch-amerikanische Komponist Yoshiaki Onishi (*1981) richtet in seinem neuen Werk jeux enjeux (UA) den Blick auf sich und sucht nach seinem ästhetischen Standpunkt zwischen Strenge und Freiheit, Ordnung und Spiel. Er schreibt:

„Die französischen Wörter jeux (Spiel, Glücksspiel) und enjeux (Einsätze, Probleme, Risiken) haben für mich schon immer einen besonderen Stellenwert gehabt, vielleicht weil sie nicht nur den gleichen Wortstamm jeu haben, sondern auch genau die kompositorischen Fragen repräsentieren, mit denen ich mich immer auseinandergesetzt habe. Einerseits stelle ich nämlich die Frage, wie ich kompositorische Strukturen konstruieren kann, die logisch fundiert sind (etwas, woran ich denke, wenn ich an das Wort enjeux denke), und andererseits stelle ich die Frage, wie ich mit solchen kompositorischen Strukturen interagieren kann (etwas, woran ich mit dem Wort jeux denke).

In den letzten Jahren war mein kompositorischer Output relativ gering, und ich habe beobachtet, dass ich mich mehr bei der Schaffung von enjeux zu Hause gefühlt habe und irgendwie Angst vor dem Akt des jeux bekommen habe. ‚Live a little‘, wie eine englische Redewendung sagt, aber es ist fast so, als hätte ich vergessen, wie man das in der Praxis des Komponierens macht.

(…) Dieses Stück zeichnet meinen Prozess der Wiederherstellung oder Neufindung des Gleichgewichts zwischen diesen beiden kompositorischen Modi nach. In diesem Sinne ist es ein sehr bekenntnishaftes Stück. Im weiteren Sinne geht es aber auch um das Verhältnis von Strenge und Freiheit. Angesichts dessen, was als ‚Freiheit‘ erscheint, frage ich auch, ob es so etwas wie ‚Freiheit‘ gibt oder wie ‚Freiheit‘ aussehen könnte.“ (Yoshiaki Onishi)

Verschlüsselt ist der Verweis, den der aus Kanada stammende Komponist Max Murray (*1988) auf sein Werk Donner, danach gibt. Er spricht von einem aufrüttelnden Weckruf, entrissen der ‚Ewigkeit eines Donnerworts‘ – eine sprachlich merkwürde Verdrehung des altbekannten, mehrfach von Bach verwendeten Kirchenlieds von Johannes Rist O Ewigkeit, du Donnerwort:

„Wrested of a Donnerwort’s Ewigkeit
— a churning Wake
calling Under —“
(Max Murray)

Wie bereits das Eingangsstück stellt auch das letzte Stück des Programms einen expliziten Bezug zum 19. Jahrhundert her. Die US-amerikanische Komponistin Michelle Lou (*1975) schreibt:

„Der Titel dieses Stücks, lie beneath the grass, ist einer Zeile aus dem Gedicht Dirge von Thomas Lovell Beddoes entlehnt, einem englischen Schriftsteller und Arzt des 19. Jahrhunderts, der sich ständig mit dem Tod beschäftigte. Beddoes soll Medizin in der Hoffnung studiert haben, physische Beweise für den menschlichen Geist zu finden, der über den Tod des Körpers hinaus weiterlebt. Und so endet mein Stück mit einem Klagelied inmitten der ratternden Geräusche der Zikaden.“ (Michelle Lou)

We do lie beneath the grass
In the moonlight, in the shade
Of the yew-tree. They that pass
Hear us not. We are afraid
They would envy our delight,
In our graves by glow-worm night.
Come follow us, and smile as we;
We sail to the rock in the ancient waves,
Where the snow falls by thousands into the sea,
And the drown'd and the shipwreck'd have happy graves.

Thomas Lovell Beddoes (1803–1849), Dirge

Wir liegen unter dem Gras
Im Mondlicht, im Schatten
des Eibenbaums. Sie, die vorbeigehen
Hören uns nicht. Wir haben Angst,
Sie würden uns die Freude neiden,
In unseren Gräbern bei Glühwürmchennacht.
Kommt, folgt uns und lächelt wie wir;
Wir segeln zu dem Felsen in den alten Wellen,
Wo der Schnee zu Tausenden ins Meer fällt,
Und die Ertrunkenen und Schiffbrüchigen glückliche Gräber haben.

Thomas Lovell Beddoes (1803–1849), Totenklage



Vor dem Konzert ist im Studio 1 ab 19.30 Uhr die Installation Ursuppe von Sophia Schönborn, Justin Robinson und Simon Stimberg zu sehen und zu hören.