Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Samstag 9.11., 21.00 Uhr – Videodokumentation

Frisch

Ensemble hand werk

Bild vom Ensemble hand werk in einer Fahrradwerkstatt
© Rebecca ter Braak

Programm

  • Michael Maierhof
    specific objectsUA(2020-22)
    für vier Spieler:innen, PET-Flaschen, Motoren und LED-Licht
    Komposition unterstützt vom Zukunftsstipendium der Behörde für Kultur und Medien Hamburg und dem Landesmusikrat Hamburg 2021
    +++Ein Videomitschnitt ist nicht verfügbar+++
  • Interview
    Michael Maierhof, Heni Hyunjung Kim und Niklas Seidl im Gespräch mit Leonie Reineke
  • Masahiro Miwa
    Four Bits Counters(2010)
    für vier Performer:innen
    +++Ein Videomitschnitt ist nicht verfügbar+++
  • Peter Ivan Edwards
    Li Lo No(2019)
    für Klaviertrio
  • Mert Moralı
    Ballad for the Risk Class II(2022)
    für Flöte, Bassklarinette, Violine, Klavier und Zuspiel
    +++Ein Videomitschnitt ist nicht verfügbar+++
  • Mariel Terán
    Maquila(2023)
    für sechs Performer mit Poka-Yoke Cube
  • Carola Bauckholt
    Schraubdichtung(1989/90)
    für Sprechstimme, Bassklarinette, Violoncello und Percussion
  • Niklas Seidl
    shambles(2019)
    für Flöte, Klarinette, Klavier, Percussion, Violine und Violoncello

hand werk

Daniel Agi – Flöte, Stimme, Objekte | Heni Hyunjung Kim – Klarinetten, Objekte | Jae A Shin – Violine, Objekte | Niklas Seidl – Cello, Objekte | Thibaut Surugue – Piano, Objekte | Moritz Koch – Perkussion, Objekte

Moderation und Gespräche: Leonie Reineke


Zu ihrem Debüt bei der Klangwerkstatt Berlin präsentiert das Kölner Ensemble hand werk ein mitreißendes Programm ästhetisch anspruchsvoller und handwerklich herausfordernder Stücke, das ganz die Handschrift des Ensembles trägt: Performative Stücke im spielerischen Umgang mit Klangerzeugern wechseln sich ab mit reinen Instrumentalwerken voll lustvoll kompositorischer Detailverliebtheit.

Das Programm spannt einen weiten Bogen von Carola Bauckholts Schraubdichtung von 1989/90 für Sprechstimme, Bassklarinette, Violoncello und Percussion bis hin zur Uraufführung von Michael Maierhofs neuestem performativen Stück aus der Reihe specific objects. Gleich mehrere Werke bringen die Musiker:innen von ihren Reisen mit: Li Lo No des US-Amerikaners Peter Ivan Edwards lernten sie in Singapur kennen, wo Edwards Komposition lehrt. Maquila der jungen bolivianischen Komponistin Mariel Terán brachte hand werk 2024 in Bolivien zur Uraufführung. Das performative Four Bits Counters (2010) von Masahiro Miwa begleitet das Ensemble schon seit vielen Jahren in zahlreichen Konzerten. shambles schrieb der Komponist Niklas Seidl, der zugleich Cellist des Ensembles ist, für hand werk. Ballad for the Risk Class II des in Berlin lebenden Mert Moralı wurde 2022 von hand werk in Izmir, der Heimatstadt des Komponisten, uraufgeführt. Der Titel bezieht sich auf eine zentrale Schrift der Kulturtheoretikerin Angela McRobbie Be Creative, Making a Living in the New Culture Industries, in der es um prekäre Arbeitsformen der jungen, urbanen Kultur- und Kreativszene geht.



Michael Maierhof: specific objects (2020–22)
Michael Maierhofs Komposition specific objects für vier Spieler:innen, PET-Flaschen, Motoren und LED-Licht gehört in einer Reihe von Stücke gleichen Namens, in denen sich der Komponist seit 2011 mit der ganz spezifischen Klanglichkeit von Objekten und deren Verwendung als Instrumente auseinandersetzt. In den specific objects von 2020-2022 kommt als zusätzliche Komponente das Licht als kompositorisches Element hinzu.

Seit den frühen neunziger Jahren schreibt Michael Maierhof tonhöhenunabhängige Musik und arbeitet mit Instrumenten, Objekten, Präparaten, Anwendungen, schwingenden Systemen und Motoren. Er erforscht Längswellenphänomene auf Nylonsaiten, Untertöne auf Streichinstrumenten, Reibung auf unterschiedlich strukturierten Oberflächen, Aktivierung von Instrumenten und Objekten durch mechanische und klangliche Motoren, die plastischen Materialien zur Konstruktion neuer Resonanzräume und entwickelt analoge Vocoder für Blasinstrumente und die Stimme.

Masahiro Miwa: Four Bits Counters (2010)
Ein Spielerpaar zählt von 0 bis 15 und ein zweites gleichzeitig von 15 bis 0. Die vier Hände jedes Spielerpaares stellen Zahlen in binärer Darstellung dar.
Masahiro Miwa

Peter Ivan Edwards: Li Lo No (2019)
Li Lo No begann ursprünglich mit dem rhythmischen Tutti-Material, das im gesamten Stück wiederkehrt. Dieses Material ist von minimalistischer Qualität, weist aber plötzliche Verschiebungen und Störungen auf. Diese Verschiebungen und Brüche bleiben bestehen, aber die (oft) beträchtliche Zeit zwischen ihnen wird durch kontrastierendes Material ersetzt. Das Werk besteht aus acht Materialien mit unterschiedlichen Charakteren und Instrumentenkombinationen. Diese werden einander gegenübergestellt und überlagert. Die Entscheidungen über diese Gegenüberstellungen und Überlagerungen waren der wichtigste kreative Raum für mich beim Schreiben des Stücks. Für die Erzeugung der Materialien werden elementare zelluläre Automaten (engl. cellular automata, CA) verwendet. Die Arbeit ist in gewisser Weise eine Etüde oder ein Experiment mit dem Potenzial dieses algorithmischen Werkzeugs für kompositorische Zwecke. Ich war fasziniert von den unterschiedlichen Ergebnissen der verschiedenen CA-Regeln – einige erzeugen scheinbar zufällige Ergebnisse, andere oszillierende oder zyklische Ergebnisse, und wieder andere nehmen ihren Lauf und bleiben in einem einzigen Zustand stecken. Unabhängig davon sind die CA-Ergebnisse einfach eine Folge von 1en und 0en, die dann interpretiert werden müssen. Die Bestimmung der verschiedenen Regeln und Interpretationsstrategien für jedes der Materialien war der andere wesentliche kreative Bereich in diesem Stück. Das Werk wurde für das Trio Khaldei zwischen Mai und August 2019 in Singapur geschrieben.
Peter Ivan Edwards

Mert Moralı: Ballad for the Risk Class II (2022)
In Anlehnung an Ulrich Beck definiert Angela McRobbie die „risk class“ als einen Teil der Mittelschicht, der sich nach den Veränderungen des Arbeitsregimes im Zuge der Neoliberalisierung in den 1980er Jahren herausgebildet hat. Diese Gruppe von Menschen, so die Autorin, knüpfe an die Konsumgewohnheiten der traditionellen Mittelschicht an, genieße aber nicht die Vorteile, die der Mittelschicht zugeschrieben werden: Arbeitsplatzsicherheit, soziale Sicherheit, bezahlter Urlaub, Mutterschutz, Elternzeit etc. Das zweite Stück des Zyklus Ballad for the Risk Class beschäftigt sich mit der idealisierten Virtuosität, ihren nostalgischen Konnotationen und den destruktiven Aspekten dieser Nostalgie. Der Pianist, eine Metapher für Individualismus und handwerkliche Professionalität, wird zum Knopfdrücker, der die Ideen des virtuellen Pianisten kopiert und mechanisch reproduziert. Reale und virtuelle Interpreten teilen sich denselben Körper, den des Klaviers, auf eine beunruhigende Weise, die die Schizophrenie des Spätkapitalismus widerspiegelt.
Mert Moralı

Mariel Terán: Maquila (2023)
Dieses Stück wurde auf der Basis von Produktionslinien und deren Prozessdesign-Werkzeugen geschrieben: das zweihändige Prozessdiagramm und das Poka-Yoke-Prinzip. Das zweihändige Prozessdiagramm wurde 1921 von Frank Gilbreth im Rahmen einer Studie zur Optimierung der Produktion entwickelt. Es dokumentiert den Prozessablauf und erleichtert die Untersuchung von instinktiven und unnötigen Bewegungen. Auf der anderen Seite steht das Poka-Yoke-Prinzip, was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie: Fehlervermeidung. Dabei handelt es sich um einen Mechanismus in einem Prozess, der dem Bedienenden helfen soll, Fehler zu vermeiden, und der auch den Instinkt während des Prozesses fördert. Beide Werkzeuge halfen bei der Herstellung dieses Stücks, das die Bewegung nutzt, um eine rhythmische Maquila* zu simulieren.
Mariel Terán

*Als Maquila oder Maquiladora werden Montagebetriebe im Norden Mexikos und in Mittelamerika bezeichnet, die importierte Einzelteile oder Halbfertigware zu Dreiviertel- oder Fertigware für den Export zusammensetzen.

Carola Bauckholt: Schraubdichtung (1989/90)
Schraubdichtung ist ein Sprechstück und wurde für eine von Christian Scholz herausgegebene Lautpoesie-Anthologie geschrieben. Einen Text im engeren Sinne gibt es nicht, statt Normal-Sprache finden nur Worte und Wortbruchstücke Verwendung. Es sind Begriffe, die dem Inventar eines Werkzeugkastens entlehnt und zu einer kleinen Laut-Geschichte gefügt sind. Zunächst hat die Schraube ihren Auftritt, die sogleich zum Schraubenzieher, Ergänzung und Gegenstück zugleich, erweitert wird. Folgt der Schleifstein, der faktisch und klanglich die Situation zuspitzt. Geräte mit sanfteren Gewinden, wie Flügelmutter oder Schraubbolzen nehmen die Stelle eines dolce-Teils ein, bevor sich durch eine Häufung von zischenden Konsonanten (sch, ch, ks) eine geräuschhaftere Passage anschließt. Dem schärferen Klang entsprechen die schärferen Werkzeuge: Stoßaxt, Stichaxt, Axt. „Die Schraubdichtung ist eine konkrete Untersuchung von Musik und Sprache. Worte werden hier in Musik übersetzt; es handelt sich um eine Instrumentation ihrer klanglichen Substanz“, so Carola Bauckholt.

Werkzeugbegriffe sind für eine Transformation ins Musikalische besonders geeignet: Werkzeuge erzeugen durch ihren Gebrauch Geräusche. Der Klang ihres Namens ist oft onomatopoetisch (Sch-l-a-i-f-sch-tain). Der klangliche Charakter des Namens assoziiert die Wirkung (der kurze harte Schlag der Axt). Und der Gebrauch von Werkzeugen ähnelt dem Gebrauch von Instrumenten, wie Carola Bauckholt es beschreibt: „Dieses handwerkliche Genre wird konkret musikalisch (durch Streichen, Reiben, Schlagen, Stoßen) wie auch kompositorisch (Zerhacken, Montieren, Ausfeilen) reflektiert.“ Die musikalische Gestaltung ließ sich von Bedeutung und Klang der Worte leiten und ist eine Umsetzung der handwerklichen Klangsphäre in die Musikinstrumente. Die Doppeldeutigkeit der Klanghervorbringung offenbart auch die Doppelnatur der Instrumente, die nicht nur aufgrund ihrer Mechanik, sondern auch durch ihren Zweck Werkzeuge sind.
Frank Hilberg

Niklas Seidl: shambles (2019)
shambles ist allen Menschen und Situationen gewidmet, die Aufgrund verschiedener Gründe vor einem Scherbenhaufen stehen. Krankheiten wie Alzheimer, Depression und Geschehnisse wie Krieg und Gewalt führen dazu, dass ein mühsam errichteter seelischer oder konkreter Zustand zerstört und auf Kleinteiligkeit reduziert wird. Die Musik hat sich an diesem Zustand orientiert und versucht vergebens, die Scherben aus den Trümmern zusammenzufügen. Richtungslosigkeit, vage Erinnerungen und loser Zusammenhang münden in einem entkontextualisierten Ist-Zustand ohne Erinnerungen an Vergangenes.
Niklas Seidl