Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Freitag 15.11., 20.00 Uhr – Videodokumentation

NONO 100: Fragmente – Stille

Sonar Quartett & Ensemble Reflexion K & Florian Neuner

Collage mit Fotos von Sonar Quartett und Ensemble Reflexion K sowie ein Portraitfoto von Florian Neuner
© Jörg Gruneberg (Florian Neuner), Ensemble Reflexion K (Ensemble Reflexion K), Zuzanna Specjal (Sonar Quartett)

Programm

  • Luigi Nono
    Fragmente – Stille, An Diotima(1979/1980)
    für Streichquartett
  • Interview
    Florian Neuner im Gespräch mit Leonie Reineke
  • Florian Neuner
    sturzbäche & unterirdische flüsse. nonomaterialUA(2024)
    Lesung
    Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Luigi Nono
    A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum(1985)
    für Kontrabassflöte, Kontrabassklarinette und Live-Elektronik

Sonar Quartett

Wojciech Garbowski, Salvatore di Lorenzo – Violine | Ian Anderson – Viola | Niklas Seidl (als Gast) – Violoncello

Ensemble Reflexion K

Beatrix Wagner – Kontrabassflöte | Joachim Striepens – Kontrabassklarinette | Gerald Eckert – Elektronik

Florian Neuner – Lesung

Moderation und Gespräche: Leonie Reineke



Anlässlich des 100. Geburtstages von Luigi Nono widmet sich die Klangwerkstatt Berlin mit zwei Konzerten seinem exzeptionellen Spätwerk.

Angesichts des Scheiterns sozialistischer Staaten wie linker Ideale und Utopien am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht Nono zu Beginn der 1980er Jahre eine radikale Wende. Er justiert das, was politisch engagierte Musik ist und sein kann, völlig neu. Keine politischen Parolen, keine Schlagwörter, die sich überholt haben, stattdessen subtilste Klänge, die dem Hören und Denken Raum geben, Wege ins Unbekannte eröffnen. Das Werk ist zugleich von einer Unbedingtheit bestimmt, die bis heute unmittelbar ergreift.

Im ersten Konzert spielt das Berliner Sonar Quartett Nonos legendäres Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979/80). In einer Triobesetzung bringt das Ensemble Reflexion K aus Eckernförde A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum (1985) zur Aufführung – eines der späten Werke Nonos für Instrumente und Live-Elektronik, die in Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio entstanden. In der eigens für diesen Abend entstandenen literarischen Arbeit sturzbäche & unterirdische flüsse. nonomaterial (2024) knüpft der Schriftsteller Florian Neuner an Nonos Denkräume und Arbeitsweisen an.



Luigi Nono: Fragmente – Stille, An Diotima (1979/1980)
Wie ein Paukenschlag – wenn man das so sagen kann bei einer Musik, die sich über weite Strecken am Rande des Hörbaren abspielt – eröffnet das Streichquartett Fragmente, Stille – An Diotima 1980 das so exzeptionelle Spätwerk Nonos. Es entsteht nach einer mehrjährigen Schaffenspause Nonos von 1976 bis 1979, in der sich der Komponist vor allem der Arbeit im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Italiens widmete.

In einem Gespräch anlässlich der Uraufführung des Streichquartetts 1980 beschreiben Nono und Walter Levin, Primarius des uraufführenden La Salle-Quartetts, Merkmale, die bestimmend für das ganze Spätwerk Nonos werden: Im Mittelpunkt steht die Konzentration auf den Klang, das einzelne Klangereignis und dessen Qualität als zentrales Moment der Musik. Sie findet ihren Ausdruck in subtilsten Veränderungen wie feinste mikrotonale Einfärbungen und permanent veränderte Klangfarbenmischungen. Damit einher geht das Fragmentarische der Musik: die Trennung der musikalischen Ereignisse durch Pausen unterschiedlichster Länge, die die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen in den Hintergrund treten lassen und den Moment des Ungewohnten, Überraschenden, Offen betonen. Und die herausgehobene Verwendung des Tritonus, jenes Teufels-Intervall der Musikgeschichte mit seiner so spezifischen Klangcharakteristik, sowohl im Zusammenklang als auch im melodischen Nacheinander.

Nono versteht diese zerbrechliche, sich immer am Rande der Stille bewegende Musik nicht als Abkehr von den gesellschaftlichen Fragen: „Auch das Zarte, Private hat seine kollektive, politische Seite. Ich will die große, aufrührerische Aussage mit kleinsten Mitteln.“ Oder in Max Nyffelers Worten: „Was für das Spätwerk von Luigi Nono seit dem Streichquartett charakteristisch ist: Erweiterung des einfachen Klangs zur komplexen Gleichzeitigkeit von Einzelereignissen. Auflösung aller Ordnungssysteme und festen Strukturen. Suche statt Gewissheit. Aufsuchen der leisen Regionen, der Stille. Sich Zeit lassen, nach innen horchen. Verschwiegenheit statt Verkündigung von Wahrheiten.“

Im Streichquartett spielen verschiedene Bezüge und Verweise auf die Musik- und Literaturgeschichte eine Rolle: auf Beethoven, auf die Scala enigmatica, die Rätseltonleiter, aus Verdis Ave Maria der Quattro pezzi sacri, auf den Chanson Malheur me bat des Niederländers Ockeghem und vor allem die Texte Hölderlins. Die Bedeutung Hölderlins beschreibt Luigi Nono so:

„In meinem Quartett gibt es Stillen, denen verschwiegen und unausgesprochen Fragmente aus Hölderlins Texten beigestellt sind, bestimmt für die inneren Ohren der Ausführenden. Diese Stillen, in denen in unserem Ohr das, was wir gehört haben, eine Summe bildet, mit Vorahnungen und Spannungen dessen, was noch fehlt, sind im wahrsten Sinne des Wortes aufgehobene Augenblicke (…) die Aufhebung von, für oder durch etwas, ein typische Rilkescher Augenblick, der antizipiert, träumt.

(…) Es scheint mir in der Tat etwas Außerordentliches zu sein, wenn man in einer schwierigen Gegenwart eine kreative und erfinderische Fähigkeit bewahrt, die auf etwas oder auf eine Zeit hinsteuert, die utopisch oder visionär sein kann. (…) Eine ständige Selbstbefragung, eine ständige Infragestellung, die genau das Gegenteil jeder Aussage, Erklärung, Definition ist, Beunruhigung ohne Ende. Hölderlins Denken folgend, habe ich mich in Labyrinthe des Zweifels, der Unsicherheiten begeben, und das tue ich noch, und habe dabei riskiert, zur Stille zu kommen; in eine Stille, die nichts mit dem Tod zu tun hat, die aber nach einer anderen Gegenwart, anderen Worten, Klangspektren, Himmeln verlangt.“
Nina Ermlich

Florian Neuner: sturzbäche & unterirdische flüsse. nonomaterial (2024)
Texte, so Luigi Nono, benutze er als Provokation und Erhellung. Die Archive der Literatur- und Geistesgeschichte betrachtete er als Stein¬bruch. Die Texte gehen in der Faktur seiner Kompositionen auf oder sind überhaupt nur subkutan wirksam. Ich greife Nonos montierenden Um¬gang mit Literatur auf und wende ihn auf seine eigenen Textwelten an.
Florian Neuner

Luigi Nono: A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum (1985)
1985, anlässlich von Pierre Boulez’ sechzigstem Geburtstag, schrieb Luigi Nono A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum für Kontra-Altflöte, Kontrabassklarinette und Elektronik. Ruhig, extrem nuanciert in der Dynamik, besonders im Piano, und mit einem langsamen Aufbau zu einem Forte-Höhepunkt ist es für Nonos Spätwerk charakteristisch. (…)

A Pierre … wurde am 31. März 1985 in Baden-Baden uraufgeführt. Die Interpreten waren der für Nonos Werk zentrale Flötist Roberto Fabbriciani, der Klarinettist Ciro Scarponi und das Experimentalstudio des SWR, damals noch Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF. Passend zum Anlass seiner Entstehung besteht das Werk aus sechzig Takten. Es ist Zeugnis des gegenseitigen Respekts sowie der Freundschaft, die Nono und Boulez zunächst verband, aber auch des Konflikts zwischen zwei sehr unterschiedlichen Komponisten der Musik nach 1945.

Eine Anekdote erzählt, dass Nono A Pierre … absichtlich als Verwirrspiel angelegt habe. Boulez sollte nichts von dem verstehen, was in dem Stück vor sich ging. Dabei ist anzunehmen, dass Nono in seinem Vorhaben erfolgreich war. Um dies nachzuvollziehen, empfehle ich den Versuch, das Stück zu hören und gleichzeitig die Partitur zu lesen.

Die angesprochene Verwirrung entsteht dadurch, dass zunächst die verstärkten Signale der beiden Interpreten an einen Lautsprecher neben dem jeweils anderen Spieler gesendet werden. Zudem erklingt das Gespielte durch zwei Delays noch einmal mit zwölf und vierundzwanzig Sekunden Verzögerung sowie durch eine Vierkanalanlage verräumlicht. Die ausgiebig genutzten Luftgeräusche sowie die durch Register und Dynamik bedingte klangliche Ähnlichkeit der Instrumente an vielen Stellen tragen zur weiteren Verschleierung des Geschehens bei.

Dabei entsteht ein permanent changierendes Klangband, bei dem häufig weder zwischen Flöte und Klarinette noch zwischen live Gespieltem und Delay unterschieden werden kann. Auf der visuellen Ebene wird dieser Effekt durch die folgende Anweisung im Vorwort zur Partitur verstärkt: „Die Interpreten sollen […] den Kontakt zu ihrem Instrument ständig beibehalten, d. h. das Mundstück nicht aus dem Mund nehmen. Dies auch während längerer Pausen oder Fermaten, in denen die elektronischen Klänge weiterklingen.“
Daniel Agi (Auszug aus: MusikTexte 155, S. 42ff.)