Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Samstag 16.11., 21.00 Uhr – Videodokumentation

NONO 100: Utopica futura

Susanne Zapf & Erik Drescher & Berliner Lautsprecherorchester

Collage mit Portraifotos von Susanne Zapf und Erik Drescher
© Zuzanna Specjal (Susanne Zapf) und Ragnar Schmuck (Erik Drescher)

Programm

  • Interview
    Wolfgang Heiniger im Gespräch mit Leonie Reineke
  • Luigi Nono
    Das atmende Klarsein (Fragment)(1980–1983)
    für Bassflöte, Live-Elektronik und Tonband
    I. Halaphon (Raumklang-Steuergerät)
    II. Verzögerung
    III. Publison (mikrotonale Transpositionen)
    IV. Improvisation + Tonband
  • Luigi Nono
    La lontananza nostalgica utopica futura. Madrigale per più „caminantes“ con Gidon Kremer(1988/1989)
    für Solovioline, 8 Tonbänder, 8 bis 10 Notenständer

Erik Drescher – Flöte

Susanne Zapf – Violine

Berliner Lautsprecherorchester

Klangregie: Saemi Jeong

Moderation und Gespräche: Leonie Reineke



Anlässlich des 100. Geburtstages von Luigi Nono widmet sich die Klangwerkstatt Berlin mit zwei Konzerten seinem exzeptionellen Spätwerk.

Angesichts des Scheiterns sozialistischer Staaten wie linker Ideale und Utopien am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht Nono zu Beginn der 1980er Jahre eine radikale Wende. Er justiert das, was politisch engagierte Musik ist und sein kann, völlig neu. Keine politischen Parolen, keine Schlagwörter, die sich überholt haben, stattdessen subtilste Klänge, die dem Hören und Denken Raum geben, Wege ins Unbekannte eröffnen. Das Werk ist zugleich von einer Unbedingtheit bestimmt, die bis heute unmittelbar ergreift.

Das zweite Konzert fokussiert sich mit La lontananza nostalgica utopica futura (1988/1989) und Das atmende Klarsein (Fragment) (1980–1983) auf das Zusammenspiel akustischer Instrumente und Lautsprechermusik, das sich zum ganzen Raum hin öffnet. Mit dem Berliner Lautsprecherorchester unter der Leitung von Wolfgang Heiniger und den Solist:innen Susanne Zapf (Violine) und Erik Drescher (Flöte) treffen für diese sehr besondere Musik die idealen Interpret:innen aufeinander.


Das atmende Klarsein (Fragment) (1980–1983)
Das atmende Klarsein steht am Anfang der Zusammenarbeit Nonos mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks, dem heutigen SWR Experimentalstudio, die das letzte Schaffensjahrzehnt Nonos so maßgeblich prägte. Das Stück komponierte Nono für kleinen Chor, Bassflöte und Live-Elektronik. Flöten- und Chorsätze wechseln sich ab. Unter Das atmende Klarsein (Fragment) versteht man die alleinige Aufführung der Flötensätze, einer Aufführungsvariante, die die Zustimmung Nonos fand.

Das atmende Klarsein ist ein Schlüsselwerk für Nonos letzte Schaffensperiode, was seine Vokaltechnik und die Verwendung der Live-Elektronik im Hinblick auf die Transformation des Instrumentalklangs – hier der Bassflöte – angeht. Für den ersten Satz entwickelte das Experimentalstudio ein sogenanntes Halaphon (Raumklang-Steuergerät), das den Klang durch die Lautsprecher um das Publikum herum laufen lassen kann. Im zweiten wird der Klang verzögert. Im dritten klingen mikrotonale Transpositionen, für die das Experimentalstudio einen Apparat namens Publison zum Einsatz brachte. Mit einer Improvisation mit Tonband findet das Stück seinen Abschluss.


La lontananza nostalgica utopica futura. Madrigale per più „caminantes“ con Gidon Kremer (1988/1989)
La lontananza nostalgica utopica futura ist Nonos vorletztes vollendetes Werk. Wie auch Das atmende Klarsein entstand es in Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks. Das Stück wurde für Gidon Kremer geschrieben und im September 1988 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt.

Die Aufnahmen der Bänder fanden im Februar 1988 im Experimentalstudio in Freiburg statt. Sie bestanden hauptsächlich aus Improvisationen Kremers, wobei Nono sein Spiel studierte und die Klänge bearbeitete. Nono versprach, Kremer Entwürfe und Skizzen zu schicken, damit er das Stück im Sommer 1988 üben und lernen konnte. Kremer erhielt jedoch erst wenige Tage vor der Uraufführung eine Partitur, als er beschloss, nach Berlin zu reisen, um Nono persönlich zu treffen. Bei diesem Treffen konnte Kremer die Tonbänder anhören, aber nur einen Blick auf einige Fragmente auf einigen Papierfetzen werfen. Nach dem erneuten Versprechen, ihm am nächsten Tag die vollständige Partitur zu geben, erhielt Kremer am Morgen des 1. September zwei Seiten der Partitur und sollte in den verbleibenden Stunden des Tages den Rest der Violinstimme bekommen. Die fertige Partitur, die Kremer um 18 Uhr in der Philharmonie überreicht wurde, umfasste neun ganze Seiten Manuskriptpapier und war voller präziser Ausdrucksmarkierungen und schwer lesbarer Passagen, die das Üben des Stücks zu einer Herausforderung machten.

Nono war mit dem Tonband unzufrieden und bat Kremer, das Stück solo und ohne Tonbandbegleitung zu spielen. Nach einigen Diskussionen wurde das Stück mit den Tonbändern unter dem Titel La lontananza nostalgica-futura am 3. September 1988 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt, und eine von Kremer bearbeitete und gekürzte Fassung für Violine solo wurde bereits am nächsten Tag in der Philharmonie aufgeführt. Nach einer zweiten vollständigen Aufführung in der Mailänder Scala am 2. Oktober zog der Komponist die Violinstimme zurück und schrieb sie vollständig um, wobei er die Art und Weise, wie die Tonbänder mit dem lebenden Geiger interagieren sollten, neu arrangierte. Die überarbeitete Fassung wurde am 31. Januar 1989 in Berlin fertiggestellt und erhielt den heutigen Titel.

Der Titel des Stücks lässt sich wörtlich mit „Die nostalgisch-utopisch-zukünftige Ferne. Madrigal für mehrere ‚Wanderer‘ mit Gidon Kremer“ übersetzen. Das Wort „caminantes“ (Wanderer) bezieht sich auf eine Zeile, die Nono während einer Spanienreise auf einer Klostermauer in Toledo entdeckte: „Caminante no hay caminos hay que caminar“ (Wanderer, es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen). Form und Struktur des Werkes entwickeln sich aus der Interaktion zwischen Solist:in und Klangregisseur:in – es handelt sich also nicht um ein „Konzert“ für Solo und Begleitung. Das achtspurige Tonband stellt keine fertige „zweite Stimme“ dar, sondern vielmehr ein Fundus unterschiedlicher Klangmaterialien (teilweise für dieses Stück gemachte Aufnahmen von Gidon Kremer, dazu auch diverse Umweltgeräusche), aus welchem die Klangregie im Verlaufe der etwa einstündigen Aufführung seine Auswahl trifft, wobei sie sensibel auf den Violin-Solopart zu reagieren hat.