Kunstquartier Bethanien, Studio 1
Freitag 4.11., 20.00 Uhr – Videodokumentation
Talking Music
collective lovemusic
Programm
- Michelle Agnes Magalhaes
The Word (invocation for a language that revives)UA(2022)
for voice, flute, clarinet, violin, viola, cello, electric guitar | Text : Micheliny VerunschkAuftragswerk des collective lovemusic - Philip Venables
numbers 81–85; numbers 91–95; numbers 96–100(2011/2021)
for voice, flute, clarinet, violin, viola, cello (81–85; 96–100); for speaker, two tape recorders, flute, guitar, woodblock (91–95) | Text: Simon Howardnumbers 81–85; numbers 96–100: DEA, Auftragswerk des collective lovemusic, Festival Musica und Festival d’Automne à Paris - Joanna Bailie
Artificial Environments 1-5new version(2011/2022)
for flute, clarinet, violin/viola, cello, electric guitar+++Ein Videomitschnitt ist aus technischen Gründen leider nicht verfügbar+++ - Helmut Oehring
[iɱˈfɛrno] (aus: MAPPA) Contrapasso I – V (an: Wladimir Putin / Sergej Lawrow)UA(2022)
auf Dante Alighieri / Sandro Botticelli | für Bassflöte, Bassklarinette, Violoncello, E-Gitarre, Zuspiel und visuelle Sprache–––CONTRAPASSO I (KƆNˌTƐKST) Audiozuspiel PURGATORIO1 Violoncello 24th February 2022 Putin (Kriegserklärung)2 Violoncello 25th March 2022 Lawrow (Goebbels)CONTRAPASSO II3 + 4 Quartett instrumentalCONTRAPASSO III5 Quartett GebärdenMimoChoreografie in StilleCONTRAPASSO IV6 Quartett instrumental7 Zuspiel INFERNO8 Quartett instrumental + Zuspiel INFERNO + Quartett GebärdenMimoChoreografieCONTRAPASSO V (KƆNˌTƐKST)9 Quartett instrumental–––Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin und des collective lovemusicIdee, Komposition & Choreografie/visuelle Sprache: Helmut OehringAudiozuspiel-Produktion: GOGH surround music production - Interview
Michelle Agnes Magalhaes, Adam Starkie und Philip Venables im Gespräch mit Leonie Reineke - Interview
Joanna Bailie im Gespräch mit Leonie Reineke
collective lovemusic
Emiliano Gavito – Flöte | Adam Starkie – Klarinette | Linda Jankowska – Violine | Léa Legros-Pontal – Viola | Lola Malique – Cello & Woodblock | Christian Lozano – Gitarre | Grace Durham – Stimme | Finbar Hosie – Live-TextprojektionenDas Straßburger collective lovemusic kommt mit vier neuen Werken nach Berlin, die das Ensemble in den letzten zwei Jahren in Auftrag gegeben hat. Alle Stücke widmen sich der Erforschung von Stimme, Sprache und Kommunikation. Wie verhält sich die Sprache in Worten zu anderen Formen des stimmlichen und gestischen Ausdrucks oder gar zur Musik?
Das neue Stück der brasilianischen Komponistin Michelle Agnes Magalhaes (*1979) The Word (invocation for a language that revives) entstand aus einer Zusammenarbeit mit der brasilianischen Dichterin und Sprachwissenschaftlerin Micheliny Verunschk. Gemeinsam begeben sie sich mit dem collective lovemusic auf eine musikalische Reise in das Innere des Wortes. Der erste Teil, in Form eines Statements, bekräftigt die totale Hingabe und Unterwerfung der Dichterin gegenüber dem Wort. Der zweite Teil stellt die glorreiche Auferstehung der toten Sprachen in den Mittelpunkt der Musik. Polyphon und schwindelerregend, findet das Wort seinen Platz im großen kosmischen Auge (U Qux Cah, das Herz des Himmels zwischen den Sternen). Der von Verunschk in brasilianischem Portugiesisch verfasste Text ist voller Verweise auf archaische, nicht-okzidentale Sprachen (afrikanische, indigene und Quiché/Mayan). Jedes Mitglied von lovemusic wurde eingeladen, sich am kreativen Prozess zu beteiligen, seine Version in seiner Muttersprache hinzuzufügen und den Originaltext zu aktualisieren und zu färben.
Der britische Komponist Philip Venables (*1979) konzentrierte sich in seinen Arbeiten der letzten zehn Jahre, insbesondere in seinen großen Musiktheaterwerken Denis & Katya und 4.48 Psychosis, auf die Verwendung von Text und die Idee des Geschichtenerzählens. Mit den numbers-Stücken von 2021 verschiebt er den Fokus vom Text wieder auf die Musik und ihre Fähigkeit, verbale in musikalische Strukturen zu übersetzen. Er schreibt zu diesen Stücken:
„Meine Beziehung zu numbers von Simon Howard begann 2011, als ich an zwei Gedichten des Buches arbeitete: numbers 76-80 und numbers 91-95. Seitdem hatte ich immer die Absicht, weitere Gedichte aus dieser Sammlung zu vertonen, damit sie nach und nach eine Art ‚Metastück‘ bilden, das alle hundert Strophen zusammenführt. (…) Zehn Jahre später, als die Umstände es mir erlaubten, wieder in das Buch einzutauchen, wurde mir klar, dass ich mich nach zehn Jahren Arbeit mit gesprochenem Text wieder der Musik widmen wollte. Und genau das ist es, was diese beiden neuen Werke von numbers sind: ein Versuch, zu einem von der Musik selbst diktierten Rahmen zurückzukehren, wobei ich eine enge Beziehung zu den Strukturen und Ideen von Simons Werk beibehalte und mich ihnen, wie ich hoffe, mit einer musikalischen Perspektive nähere.
numbers 81-85 ist eine Serie von fünf Episoden, die sich alle stark voneinander unterscheiden. In jeder Episode habe ich versucht, ein Gefühl oder eine Handlung aus der Handlung jeder Strophe zu destillieren und mit Musik zu illustrieren. In numbers 96-100 bilden die fünf Strophen ein Ganzes. Die gebrochene Aussprache der Worte spiegelt die Form des Textes wider und unterstützt die allgemeine Idee einer kollektiven Meditation.“ (Philip Venables)
In Joanna Bailies (*1973) Artificial Environments 1-5 führt die Stimme der Komponistin selbst durch das Stück. Wie ein auditiver Programmzettel erklärt sie die Kompositionstechniken und beschreibt imaginäre Umgebungen, in denen die uns bekannten Regeln von Zeit und Raum nicht mehr gelten. Joanna Bailie schreibt: „Die Erklärung selbst ist Fiktion (sogar Science Fiction) und dient als unzuverlässiger auditiver Programmzettel, der in die Klangwelt des Stücks integriert ist. Kratzt man jedoch ein wenig an der Oberfläche dieser Erklärung, so wird deutlich, dass der Text lediglich eine Metapher für die kompositorischen Techniken ist, die bei der Herstellung der Musik angewandt wurden. Auf einer übergeordneten Ebene, aber auf eine sehr kleine und bescheidene Weise, ist das Werk ein Versuch, die Außenwelt in den Konzertsaal für zeitgenössische Musik einzuführen. Die Klänge in Artificial Environments 1-5 wurden an verschiedenen Orten in Europa aufgenommen – in den Hügeln Umbriens, in Kopenhagen, Malmö, London und an verschiedenen Orten im Zentrum von Brüssel, wo ich wohne.“ (Joanna Bailie)
Die zweite Uraufführung des Konzertes ist [iɱˈfɛrno] (aus: MAPPA) Contrapasso I – V (an: Wladimir Putin / Sergej Lawrow) von Helmut Oehring (*1961). Beeinflusst von der Kommunikation taubstummer Menschen, speist Helmut Oehring seine Musik aus Gesten und körperlichen Ausdrücken, die der Gebärdensprache eigen sind. Das Stück ist inspiriert von Botticellis Mappa dell’Inferno, der grafischen Darstellung von Dantes Hölle aus der Göttlichen Komödie. [iɱˈfɛrno] basiert zugleich auf Reden des russischen Präsidenten und des russischen Außenministers, die sie mit Beginn ihres Angriffskrieges gegen die Ukraine hielten. Helmut Oehring schreibt zu dem Stück:
„Von 1307 bis zu kurz vor seinem Tod 1321 schrieb Dante Alighieri im Exil La Divina Commedia (Die Göttliche Komödie) in drei Teilen – Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso – und legte mit dieser herausragenden epischen Verserzählung einen Grundstein der italienischen Schriftsprache und Dichtung. Ab 1480 zeichnete Sandro Botticelli in Mappa dell’Inferno den Abgrund der Hölle, wie Dante sie beschrieben hatte. Insbesondere an dieser Zeichnung orientiert sich die zyklische kompositorisch-visuelle Arbeit in [iɱˈfɛrno] (aus: MAPPA) Contrapasso I – V (an: Wladimir Putin / Sergej Lawrow) wie auch an dem von Dante im Inferno beschriebenen Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit: Contrapasso. Es besagt, dass alle im Leben begangenen Sünden in der Hölle ‚angemessen‘ bestraft werden.
In formaler Hinsicht die komplexen Zahlenverhältnisse, zahlensymbolischen Intentionen und mathematischen Berechnungen, die Dantes Inferno zu Grunde liegen, abstrahierend, setzt sich die Partitur aus fünf Teilen (Contrapasso I – V) sowie neun Hauptschichten zusammen – neun HöllenKreise. Laut Dante ist der siebte HöllenKreis Straßenräubern, Gewalttätern, Tyrannen, Mördern vorbehalten …
In einem ähnlichen transformativen Prozess, wie etwa Gerhard Richters dokumentarische Fotografien (zum Beispiel aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, des Nürnberger Rathausplatzes am Reichsparteitag der NSDAP 1933 oder der Isolationszellen der RAF-Mitglieder in Stuttgart-Stammheim) als Vorlagen für seine bildnerischen Arbeiten verwendete, basiert die audiovisuelle Komposition [iɱˈfɛrno] (aus: MAPPA) Contrapasso I – V (an: Wladimir Putin / Sergej Lawrow) auf den Reden des russischen Präsidenten und des russischen Außenministers, die sie Ende Februar 2022 mit Beginn ihres Angriffskrieges gegen die Ukraine hielten. Diese ‚vocal biomarkers‘ wurden in Deklaration, Syntax, Grammatik und Inhalt mittels Sprachanalyse-Software wie Beyond Verbal, VoiceSense und Invoca aufgeschlüsselt, um die DNA und neuropsychologisch-emotionale Analyse des Kontextes ihrer sozioökonomischen Sprache zu transformieren und in der Folge dieses ‚emotion monitoring‘ im Kompositionsprozess auseinanderzunehmen, zusammenzusetzen und zu übermalen. So wurden die ‚underlying emotions‘ und decodiert-chiffrierten ‚vocal intonations‘ hinter der Ideologie der beiden russischen Führungspolitiker als KlangBilder in eine infernale visuelle SprachLandschaft versetzt. Neben den instrumentalen Teilen der Komposition wurden zwei elektroakustische Sequenzen realisiert sowie zwei Abschnitte, in denen ausschließlich Gebärdenchoreografie, ausgeführt durch die vier Instrumentalist:innen, im Zentrum steht.
Ab 1960 bewies der amerikanische Linguist William Clarence Stokoe mit seinen Forschungen an der Gallaudet University in Washington D.C., dass Gebärdensprachen im Allgemeinen vollwertige Sprachen sind, und initiierte mit dieser Entdeckung den Beginn einer modernen Gebärdensprachforschung. Stokoe entwickelte das schriftliche Notationssystem für Gebärdensprache, das auf dem lateinischen Alphabet begründet ist. An die Tradition der Stokoe-basierten Systeme knüpfte 1985 das wissenschaftlich orientierte Hamburger Sign Language Notation System, kurz HamNoSys, ein phonetisches Transkriptionssystem für Gebärden, das aktuell weite Verbreitung findet. Bereits seit den 1970er Jahren entwickelte die klassische Tänzerin Valerie Sutton das allgemeine Bewegungsbeschreibungssystem Sutton Movement Writing für die verschiedensten visuellen Formen, in denen Bewegung eine zentrale Rolle spielt – ein Fünf-Linien-System, ähnlich der uns bekannten musikalisch-kompositorischen Notenaufzeichnungen, auf denen in unterschiedlichen Abständen und Höhenverläufen simultane wie auch vereinzelte Hieroglyphen/Zeichen abgebildet sind. Eine eigens weiterentwickelte Mimografie verwende ich in Contrapasso I und Contrapasso V sowie in Contrapasso II/3 und Contrapasso IV/8.
Gänzlich zur Ausführung kommt eine spezielle Form von GebärdenMimoChoreografie in den Abschnitten Contrapasso III und Contrapasso IV/8, basierend auf von mir ergänzend zur Partitur angefertigten Videoclips, welche die vier Musiker:innen einstudieren und in den jeweiligen visuellen Sequenzen realisieren müssen.“ (Helmut Oehring)
Vor dem Konzert ist im Studio 1 ab 19.30 Uhr die Installation Ursuppe von Sophia Schönborn, Justin Robinson und Simon Stimberg zu sehen und zu hören.