10. bis 19. November 23

Kunstquartier Bethanien
Fahrbereitschaft Lichtenberg

Editorial 2023

Kollektiv und Gemeinsinn

„Die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen“. Bertolt Brechts Bemerkung zum Theater beschreibt Gesellschaft nicht als Ansammlung atomarer Einzelindividuen, sondern als molekulare Energie. Es geht um Austausch und Dialektik, um Kommunikation und Empathie. Dies gilt für die Musik genauso wie für das Theater.

Das Duo in seiner maximalen Reduzierung ist Nukleus und Modell dieser sozialen Energie. Es ist gleichzeitig ein zusammengehöriges Paar und ein Gegenüber, ein Geben und ein Nehmen. Die Klangwerkstatt Berlin 2023 setzt mit der Reihe Fokus Duo ein besonderes Augenmerk auf diese spezielle Besetzung. Gleich vier reine Duo-Konzerte sind Teil des Programms: homogene Paare wie das Bratschenduo Karen Lorenz und Nikolaus Schlierf und vierhändige Klavierstücke mit Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi, die den Bogen bis zur vollständigen Symbiose spannen. Daneben zwei Konzerte mit großformatigen Werken für Flöte und Cello mit dem Duo Reflexion K.

Je größer eine Gruppe, umso mehr tritt das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gemeinschaft hervor. Es bedarf beides: das Äußere, das gemeinsame Ziel, und den Gemeinsinn, der als innere Haltung jeder/s Einzelnen das Eigeninteresse zurückstellt. Denn Gemeinsinn ist nicht das Gegenteil von Individualität, sondern von Egoismus. Erst der Kollektivgedanke macht das Ensemble aktueller Musik zum Erprobungsort gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Selbstverwaltung, Hierarchiearmut, Konsensprinzip und Ausrichtung auf das Gemeinwohl werden zu Leitplanken des gemeinschaftlichen Handelns.

Dieser Ansatz ist dem Kollektiv Unruhe schon im Namen eingeschrieben. Die Gruppe von Instrumentalist:innen und Komponist:innen unternehmen das Wagnis, ein Werk zu schaffen, in dem alle Mitglieder ihre Ideen und Fähigkeiten auf Augenhöhe einbringen.

Eine weitere Möglichkeit des Kollektivs sind eigenständige Ensembles, die sich zusammentun. Für das diesjährige Festival konzipieren und realisieren Berliner Ensembles gemeinsam mit ausländischen Gruppierungen Konzerte: ensemble mosaik kooperiert mit dem spanischen Saxophonquartett Klexox, LUX:NM mit dem französischen Duo BAZAR ÉLECTRIQUE. Ein besonderer Zusammenschluss ist die Gruppe CoMA, in der sich das Laienensemble KNM Campus mit Amateurmusiker:innen aus Großbritannien und den Niederlanden vereint.

Essentiell ist das gemeinschaftliche Erlebnis Musik gerade auch für die Mitglieder der Kinder- und Jugendensembles des Festivals. Gemeinsames künstlerisches Handeln auf Augenhöhe, quer durch alle Altersstufen und unabhängig vom Ausbildungsstand.

Die Klangwerkstatt Berlin 2023 möchte erkunden, wie das „größere Ganze“ in durch Gemeinsinn geprägten Kollektiven entsteht. In der Musik wie im alltäglichen Zusammenleben.

Stefan Streich, Nina Ermlich