Einblicke in 30 Jahre Klangwerkstatt Berlin
Musikalische Partizipation

Raum für Experimente
Das Ensemble Zwischentöne

Foto des Ensemble Zwischentöne bei der Klangwerkstatt 1992
Ensemble Zwischentöne 1992 (sw-Kopie). ©1992 Petra Grosskopf

Eine Klangwerkstatt suchte Peter Ablinger Ende der 1980er Jahre im Berliner Kreuzberg. Es sollte improvisiert werden. Neue Musik und musikalische Konzepte sollten ausprobiert werden. Eingeladen waren Musikschulschüler*innen und interessierte Lai*innen. Der Kurs und die sich daran anschließende Arbeit orientierten sich vorrangig an allem jenseits des traditionell Komponierten. Es war ein Kurs für Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken, den Peter Ablinger 1988 in der Musikschule Kreuzberg ankündigte. Er wurde zur Initialzündung der Klangwerkstatt Berlin.

Mehr zur Gründung der Klangwerkstatt auf der Ausstellungsseite
Neue Musik in Kreuzberg – Der Anfang

Die ersten Konzerte

Der Kurs für Experimente wird öffentlich

Es überrascht nicht, sondern ist heute gängige Praxis, dass sich Neue-Musik-Ensembles meist aus entsprechenden Kursen heraus gründen. Allerdings finden sich diese Kurse im Kontext von etablierten Festivals, Musikhochschulen oder Meisterkursen. Im Frühjahr 1989 entstand in Berlin-Kreuzberg, an einer städtischen Musikschule, ein Ensemble für Neue Musik und Improvisation – ein offenes Ensemble. Offen vor allem mit Blick auf die Mitglieder. Denn es war zunächst lediglich das Interesse für das Experimentelle und nicht die instrumentale Fähigkeit ausschlaggebend, um Teil zu haben.

00:03:26, Peter Ablinger über die Anfänge des Ensemble Zwischentöne, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020
„[Das Ensemble waren zum Teil] Schüler und zum anderen waren es aber auch freie Leute, die keine Musikschulschüler waren. Es war zum Beispiel auch eine E-Bassistin dabei, die unten neben dem Bethanienhaus in der Wohnwagenkolonie lebte.“
Peter Ablinger, Über die Klangwerkstatt Berlin, im Gespräch mit Fabian Czolbe, Dezember 2018

Der Musikschulkurs war nicht nur ein Raum, um experimentelle Stücke oder Konzepte zu erproben, sondern bot zugleich die Möglichkeit, solche zu entwickeln. Mit einem Abschlusskonzert im Sommer 1989 verlagerten die Musiker*innen schließlich die Experimentalanordnung in die Öffentlichkeit. Das neu entstandene Ensemble stellte sich erstmalig vor.

Abbildung Plakat und Aushang des ersten Konzertes des Ensemble Zwischentöne 1989
2 Bilder, Pläne u. Abwege, Konzertplakat und Aushang | Peter Ablinger, 1989. Das Konzert fand im Kammersaal der Musikschule Kreuzberg in der Wassertorstraße statt.

Bereits früh suchte das Ensemble Zwischentöne aber auch den Kontakt zu anderen Neue-Musik-Ensembles und Solist*innen der Stadt. So kam es etwa im November 1990 zu einem Konzert mit Mitgliedern des Ensembles work in progress und anderen Berliner Musiker*innen. Diese ständige Erweiterung des Ensembles wurde zum Programm.

Programmzettel eines Konzerts des Ensemble Zwischentöne und des Ensemble work in progress im November 1990
neue musik in kreuzberg, Programmzettel, Peter Ablinger, 1990

Zwischentöne und Klangwerkstatt

Ein Ensemble mit Festival

In der Berliner Aufbruchszeit der 1990er Jahre und weit darüber hinaus brachte das Ensemble Zwischentöne zahlreiche Uraufführungen von Komponist*innen wie Sven-Åke Johansson, Juliane Klein, Alvin Lucier, Isabel Mundry, Georg Nussbaumer u. v. a. auf die Bühne. Auch die Ensemblemitglieder selbst entwickelten Stücke für das Ensemble. Das Ensemble erschloss neben neuen musikalischen Konzepten auch neue Programmformate und Spielorte der Stadt. Vor allem waren das Ensemble und die ersten Konzerte konzeptuelle Grundlage für das sich daraus entwickelnde Festival.

Aufführungsfoto der Übungen für 6 Kassettenrekorder von Gisela Klein mit dem Ensemble Zwischentöne bei der ersten Klangwerkstatt 1990
Gisela Klein, Übungen für 6 Kassettenrekorder, UA Klangwerkstatt Berlin 1990 (Videostill). Gisela Klein war Gründungsmitglied des Ensemble Zwischentöne.
Aufführung 10. März 1990, Ballhaus Naunynstraße, Berlin

Bei der ersten Klangwerkstatt 1990 standen auch mehrere Stücke von Peter Ablinger selbst auf dem Programm, u. a. die Uraufführungen von Ohne Titel / 3 Flöten I und Ins Nasse (Aria al Fresco), in denen das Ensemble konzeptuelle Ansätze auf die Bühne brachte.

Ausschnitt aus dem Programmfaltblatt der ersten Klangwerkstatt 1990 mit Stücken von Peter Ablinger u.a.
Klangwerkstatt 1990, Programm-Faltblatt (Ausschnitt), Programm vom 11. März 1990 (abends) mit Stücken von Peter Ablinger
Partiturausschnitte und Texte zu Ohne Titel für 3 Flöte und Ins Nasse von Peter Ablinger
3 Bilder, Mehr zu Peter Ablingers Ohne Titel / 3 Flöten I und Ins Nasse (Aria al Fresco)
Die Uraufführung eines Stückes wie ‚Ins Nasse (Aria al Fresco)‘ bei der ersten Klangwerkstatt mit Laienensemble, Solistin und Sven-Åke Johansson als Performer „war gleichermaßen programmatisch wichtig für die Klangwerkstatt und für mich als Komponist ästhetisch äußerst spannend, denn es hatte drei Ebenen: die Improvisation mit dem Ensemble, einen traditionell auskomponierten Mezzosopran Teil und als dritte Ebene wieder unabhängig davon die Performance von Sven-Åke. Drei unterschiedliche und unabhängige Ebenen, die gleichzeitig liefen, aber doch irgendwie verbunden waren. […] Und das sind eben genau diese Zwischentöne, die Bruchstellen, die Übergänge, die den Rahmen der Klangwerkstatt ausfüllen.

Da sich die ursprüngliche Idee des Konzerts nun zu einem Festival entwickelt hatte, haben wir natürlich nach einem Namen gesucht […] und einer meiner Vorschläge […] war ‚Zwischentöne‘. Nach diesem Vorschlag kam ich aber noch auf ‚Klangwerkstatt‘ und das fand er [Michael Schwinger, Leiter der Musikschule Kreuzberg] besser, so bekam mein Ensemble dann den Namen ZWISCHENTÖNE.“
Peter Ablinger, Über die Klangwerkstatt Berlin, im Gespräch mit Fabian Czolbe, Dezember 2018

Im Programmheft der zweiten Klangwerkstatt im März 1991 findet sich dann erstmalig der Name Zwischentöne für das neugegründete Ensemble. Der Zusatz Workshop-Ensemble der Musikschule Kreuzberg fiel später weg.

Aufführungsfotos des Ensemble Zwischentöne und Auszüge aus dem Programmheft der Klangwerkstatt 1991 und 1992
7 Bilder, Das Ensemble Zwischentöne bei der Klangwerkstatt. Auszüge aus dem Programmheft 1991 und 1992 und Aufführungsfotos 1992 (sw-Kopie)

Von der Gründung an über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg prägte das Ensemble auch die Klangwerkstatt Berlin. Mit seinen teils experimentellen Programmen, dem partizipativen Modellcharakter und der musikalischen Neugier war es eine der treibenden Kräfte für das Festival.

Foto einer Eintrittskarte der Klangwerkstatt Berlin 2010 zum Konzert des Ensemble Zwischentöne
Ensemble Zwischentöne, Eintrittskarte, Klangwerkstatt Berlin 2010

Das Ensemble als Experimentierraum und Werkstatt

Zwischentöne über Zwischentöne

Material und Genres

Das Ensemble selbst verstand sich als experimenteller Raum oder Werkstatt. Das Ensemble begab sich dabei stets auf ein Terrain, welches die musikalische Hochkultur nicht selten als akustischen Abfall verschmähte. Den traditionellen Instrumenten wurden dabei nicht nur neue Töne entlockt, sondern Objekte fernab der Musik und deren akustische Qualitäten wurden Teil des Klangapparates.

00:02:56, Peter Ablinger über die Qualität des Nicht-Könnens, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020

Seit Anbeginn wurde nach klanglichen und konzeptuellen Schnittstellen musikalischer Genres gesucht. Dabei standen sich immer wieder unterschiedliche Musiken und Musizierhaltungen gegenüber: War es einmal die Interpretation der Noten eines komponierten Stückes, war es im nächsten Augenblick eine experimentelle Jazzform oder die Improvisation, bei der die Musiker*innen unmittelbar aufeinander reagieren mussten.

Programmfaltblatt mit einer Selbstbeschreibung des Ensemble Zwischentöne 1991 und Bericht zum 10jährigen Jubiläum von Ensemble Zwischentöne im Tagesspiegel 1998
2 Bilder, Texte über Ensemble Zwischentöne, 1991 und 1998

Graphische Notationen

Auch die graphische Erweiterung der westeuropäischen Notationstradition spielte eine große Rolle. Ein Beispiel dafür ist das Stück Annahme 2 (1988/89) von Peter Ablinger, das 1991 erstmals bei der Klangwerkstatt auf dem Programm stand. 1992 führte Roland Dahinden (Posaune) daraus Annahme 2C bei der Klangwerkstatt auf.

Ausschnitte aus der Partitur von Annahme 2 von Peter Ablinger
2 Bilder, Peter Ablinger, Annahme 2, 1988/89, autographer Graphik-Teil, Ausschnitte auf einem Programmheft des Ensemble Zwischentöne 1991


Peter Ablinger, Annahme 2C für ein Instrument ad libitum, DE Klangwerkstatt Berlin 1992,
Ausführender: Roland Dahinden, Posaune
„Um den Jahreswechsel 1988/89 gestaltete Peter Ablinger diese Skizzen für das kammermusikalische Werk ANNAHME 2. Die detailreiche Collage aus Noten, grafischen und malerischen Elementen und Fotografien steht in der Tradition alternativer Formen der Notation. Dabei handelt es sich, wie auch Ablinger betont, jedoch nicht um visuelle Kunst, sondern um musikalische Spielanweisung. Wobei die oder der Ausführende Erfahrung in der Improvisation mitbringen sollte. Ablinger lotet hier auf vielgestaltige Weise die Abstufungen und Übergänge zwischen einer konventionellen Notation und grafischen Hinweisen aus, was zahlreiche Fragen aufwirft:
Welche Möglichkeiten und Freiheiten ergeben sich aus der Loslösung von herkömmlichen Schreibweisen?
Was ist spielbar?
Wie deutet man Zeichen?
Wie überträgt man außermusikalische Bilder in Klänge?
Was ist überhaupt notierbar?
Und was beginnt hinter dem Notierbaren?“
Martin Gasser, Kommentar zu „Peter Ablinger: Skizzen zu ANNAHME 2“, in: herbstbuch 1968-2017, Wien 2017, S. 135

Zusammenarbeit mit Komponist*innen

Für das Ensemble war es selbstverständlich, dass Komponist*innen als Gleichberechtigte bei (Ur)Aufführungen mitwirkten. Dies gelang vor allem dank eines eher ‚unprofessionellen Luxus‘, musikalische Konzepte und Stücke in langen Probenphasen intensiv zu erkunden. In diesen Phasen erarbeiteten sich die Musiker*innen nicht nur Stücke unterschiedlichster Genres, es entstanden auch neue Stücke aus dem Zusammenspiel von Ensemble und Komponist*in.

00:09:47, Peter Ablinger über die Zusammenarbeit des Ensemble Zwischentöne mit Komponist*innen, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020

Der Entdeckergeist des Ensembles reichte weit über rein instrumentelle Stücke hinaus bis hin zu musiktheatralen Arbeiten und Performances. Zentral war dabei die Teilhabe der Ensemblemitglieder. Programme mit Werken notierter und nicht notierter Musik, Stücke mit verbalen Spielanweisungen oder graphischen Notationen fordern letztlich ein ganz besonderes Engagement jedes einzelnen Musikers – egal ob Laienmusiker*innen und professionellen Musiker*innen. Gerade dieses Zusammenspiel oder besser die ‚Offenohrigkeit‘ der Musiker*innen brachte ebenjene ‚Zwischentöne‘ hervor, nach denen Ablinger und das Ensemble suchten.

Starren Träumen Wittern Zögern von Michael Hirsch, ein Auftragswerk der Musikschule Kreuzberg, entstand in einem solchen sehr offenen Prozess, in den jede/r einzelne Solist*in des Ensemble Zwischentöne einbezogen wurde. Im Programmheft beschreibt Hirsch diesen Kompositionsprozess als einen ständigen Wechsel zwischen der üblichen Arbeit am Schreibtisch und der experimentellen Entwicklung mit den Musiker*innen während der Proben.
Starren Träumen Wittern Zögern wurde am 8. November 1998 vom Ensemble Zwischentöne im Rahmen der Klangwerkstatt uraufgeführt.

Partiturausschnitte und Ablaufplan von Michael Hirschs Starren Träumen Wittern Zögern
3 Bilder, Michael Hirsch, Starren Träumen Wittern Zögern (1998), Musikalische Szenen für das Ensemble Zwischentöne, UA Klangwerkstatt Berlin 1998, Ausschnitte aus der Partitur und Ablaufplan
„Die für das Ensemble Zwischentöne komponierte musikalische Szene ‚Starren Träumen Wittern Zögern‘ gehört einer Reihe von Kompositionen an, die um die Lyrik des ‚schizophrenen‘ Dichters Ernst Herbeck kreisen. Dazu gehören noch die elektroakustische Raumkomposition ‚Die Worte, die Mauern‘, eine Musiktheaterkomposition (für Donaueschingen 1999), sowie eine abendfüllende Oper (für die Oper Bielefeld im Jahr 2000). Der in diesem Werkkomplex sich immer mehr bis hin zur Oper ausweitende Aspekt des Musiktheatralen hat in ‚Starren Träumen Wittern Zögern‘ noch einen explizit experimentellen Charakter. Es gibt keine Partitur, sondern ein Konvolut von szenischen und musikalischen Verhaltensweisen und musikalischen Grundmodellen, die durch einen Ablaufplan koordiniert werden.
Der Kompositionsprozeß verlief parallel zur Probenarbeit, so daß jeder Solist des Ensembles in diesen Prozeß einbezogen werden konnte. So entstanden zehn Solopartien, die erst allmählich zu immer größeren Ensemblevorgängen zusammengefaßt wurden.“
Michael Hirsch, Werkkommentar, Programmheft der Klangwerkstatt 1998

Ensemblemitglieder komponieren selbst

Das Ensemble Zwischentöne bot einen Raum, den auch die Mitglieder als Experimentierfeld nutzten. Auch sie komponierten schließlich für das Ensemble selbst. Das Repertoire umfasste daher auch Stücke von Bill Dietz, Ellen Fricke, Robin Hayward, Rainer Killius, Gisela Klein, Alex Kolkowski, Christos Kokkolatos, Inge Morgenroth, Natalia Pschenitschnikowa und Chiyoko Szlavnics.



Ellen Fricke, letters on ladders (1992) für Sprecher, UA Klangwerkstatt Berlin 1992,
Ausführende: Ellen Fricke und Christos Kokkolatos

Bereits in den 1990er Jahren hinterfragte das Ensemble zudem die klassischen Aufführungsorte von Musik und bespielte etwa die Toiletten der Schaubühne am Lehniner Platz. Diese Suche nach neuen Raum- und Hörerfahrungen setzte sich seit 2007 nun unter der Leitung von Bill Dietz weiter fort: So bereits im selben Jahr mit Krieg der Sprachen, einer 30tägigen Konzertreihe des Ensembles im Berliner Stadtteil Wedding, 2011 mit David Moss’ Sounding Neukölln – the Parade oder 2013 mit Bill Dietz’ Das Wort haben die Benützer einem Meta-Tutorial in Zusammenarbeit mit Janina Janke zur Bespielung von Häuserfassaden. Bis 2015 waren unzählige Zwischentönen gefunden, verformt, verloren, verstärkt … Töne zwischen den Tönen, Töne zwischen den Akteuren und bewegte Töne zwischen dem Publikum.

Partiturausschnitt  von Bill Dietz THE ANONYMOUS INTIMACY OF AUDIBILITY IS INDEED AN ALTERNATIVE TO REPRODUCTIVE SEXUALITY, uraufgeführt 2014 bei der Klangwerkstatt Berlin
Bill Dietz, THE ANONYMOUS INTIMACY OF AUDIBILITY IS INDEED AN ALTERNATIVE TO REPRODUCTIVE SEXUALITY (2014) für Stimmen, UA Klangwerkstatt Berlin, 3. November 2014