Einblicke in 30 Jahre Klangwerkstatt Berlin
Musikalische Partizipation
Die große Bühne
Werkstatt Neues Musiktheater
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In den Jahren 2005 bis 2007 wurde innerhalb der Klangwerkstatt Berlin mit dem Musiktheater ein neuer Schwerpunkt etabliert. Er entstand in Kooperation mit der Musikschule Paul Hindemith Neukölln und wurde von deren Leiter Volkmar Bussewitz als Projektleitung sowie von dem Akkordeonisten, Dirigenten und Musikschullehrer Gerhard Scherer als künstlerischem Leiter initiiert. Von Beginn an lag der der Fokus der Werkstatt Neues Musiktheater auf der Zusammenarbeit von professionellen Sänger*innen und Regieteam mit jugendlichen wie erwachsenen Laien aus Berlin-Neukölln.
2012 wurde mit einer weiteren Musiktheaterproduktion die Idee eines partizipativen Musiktheaters noch einmal bei der Klangwerkstatt Berlin unter veränderten Vorzeichen aufgegriffen.
Konstante in allen drei Jahrgängen der Werkstatt Neues Musiktheater von 2005 bis 2007 war das von Gerhard Scherer geleitete Ensemble Experimente, das dieser 1999 mit Schüler*innen und Studierenden der Studienvorbereitung an der Neuköllner Musikschule gegründet hatte.
Hinzu kam, dass mit dem Saalbau Neukölln (heute Heimathafen Neukölln) ein Raum zur Verfügung stand, der Musiktheaterproduktionen überhaupt erst ermöglichte. Aufgrund seiner Lage mitten in Neukölln schien er wie geschaffen für partizipative Projekte, die aus der Musikschule heraus direkt in den Bezirk hinein wirken wollten!
2005 Georg Katzer, Michael Hirsch, Sinem Altan
Drei Kurzopern
Dem ersten Jahrgang der Werkstatt Neues Musiktheater lag die Idee zugrunde, mit drei Kurzopern von Komponist*innen unterschiedlicher Generationen und Herkunft ein möglichst großes ästhetisches Spektrum zeitgenössischen Musiktheaters zu umfassen. Hierfür wurde den drei Komponist*innen auch in der Wahl des Sujets größtmögliche Freiheit gelassen, was zu drei sehr unterschiedlichen Werken führte.
La fabbrica abbandonata
Georg Katzer
Georg Katzer, 1935 in Habelschwerdt (Schlesien) geboren und bis 1989 Bürger der DDR, schrieb mit La fabbrica abbandonata (Die verlassene Fabrik) ein düster-klaustrophobisches Werk, dessen Titel bewusst auf Luigi Nonos La fabbrica illuminata verweist: Thematisierte Nono die entfremdete Arbeit, so ist hier einfach keine Arbeit mehr da!
Die Klage des Pleberio
Michael Hirsch
Michael Hirsch, 1958 in München geboren und seit 1982 in (West-)Berlin lebend, schrieb mit Die Klage des Pleberio eine erste Musiktheater-Kompositionen zu Fernando de Rojas Lesedrama La Celestina aus dem Jahr 1499, der in den folgenden Jahren noch mehrere Kurzopern folgen sollten. Die Klage des Pleberio hat den letzten der 21(!) Akte des spanischen Stückes zum Thema. Es ist ein ausgedehnter Monolog, in dem Pleberio unter dem Eindruck des Selbstmordes seiner Tochter Melibea eine groß angelegte Anklage gegen die Welt formuliert: eine fast „existenzialistische“ Totenklage, die sich jeglichen Tröstungen religiöser Art verweigert.
In Die Klage des Pleberio hat Michael Hirsch die Idee des Partizipativen bis hin in die Komposition selbst weiter geführt. Mit einer frei notierten Strukturebene nutzt er die kreative Energie des überwiegend aus Musikschülern besetzten Ensemble Experimente für seine Komposition, um eine Komplexität eines Klangbildes zu erreichen, die in ausnotierter Form von Laienmusiker*innen sonst nicht zu realisieren gewesen wären.
„Die Partitur enthält zahlreiche Passagen, in denen nur Notenköpfe notiert sind“, schreibt Hirsch in seinem Werkkommentar. „Diese Stellen sind so zu interpretieren, dass die Spieler die angegebenen Töne innerhalb des Taktes frei verteilen können, in dem sie notiert sind. Alle unrhythmisierten Stellen sind rhythmisch so unregelmäßig wie möglich zu spielen. Das heißt, der Spieler bemüht sich stets um eine möglichst irreguläre, sprunghafte Rhythmisierung, in der die Töne möglichst gegen das Metrum und ohne eigene Periodizität gespielt werden. […] Grundsätzlich ist als musikalisches Ergebnis aller dieser unrhythmisierten Passagen der Eindruck eines quasi Sternenhimmelartigen unregelmäßigen und anti-metrischen Punktechaos anzustreben.“
Mesir-Pastillen
Sinem Altan
Die dritte Kurzoper Mesir-Pastillen stammt von Sinem Altan, 1985 in Ankara geborenen und seit 1996 als Jungstudentin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Die Mesir-Pastillen thematisieren eine der zentralen Erzählungen aus der türkischen Historie: Im Jahr 1522 erkrankte die Frau des Sultan Selim und Mutter des Sultan Süleman I. schwer und wurde durch die Mesir-Pastille, eine erfundene Medizin eines seinerzeit sehr berühmten Arztes und Naturheilers von ihren Leiden geheilt. Der Mesir-Pastille ist in der westtürkischen Stadt Manisa noch heute ein Fest gewidmet!
Anders als bei den Kurzopern von Michael Hirsch und Georg Katzer, speisen sich die Musiker*innen und Sänger*innen der Mesir-Pastillen aus dem Umfeld der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Mit dem Auftrag für die Komposition einer Oper an eine gerade 20-jährige aus der Türkei stammende Komponistin wurde nicht nur dem musikalischen Nachwuchs eine Stimme gegeben, sondern auch eine Brücke zu dem Umfeld der Uraufführung mit seinem hohen Anteil an türkischstämmiger Bevölkerung geschlagen. Ein Plan, der offenbar aufging, denn zur Uraufführung kamen nicht nur viele neugierige Neuköllner, sondern auch türkische Prominenz, wie der Tagesspiegel berichtet.
Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2005 finden Sie hier im Programmheft.
2006 Juliane Klein
Glück
Im Jahr 2006 stand ein einziges, abendfüllendes Werk auf dem Programm der Werkstatt Neues Musiktheater: Glück von Juliane Klein. Anders als im Jahr davor lag der partizipative Fokus in Glück auf der Einbeziehung auch erwachsener Laienmusiker*innen. Neben den jugendlichen Musiker*innen des Ensemble Experimente agierte in Glück auch der an der Musikschule Neukölln beheimatete Gropius-Chor in zentraler Funktion auf der Bühne.
Juliane Kleins Glück speist sich gleichermaßen aus Oscar Wildes Märchen Die Nachtigall und die Rose wie aus Gedichten Gottfried Benns. Während in Die Nachtigall und die Rose die Liebe im Vordergrund steht, die einen fortreißt aus den gewohnten Zusammenhängen und zu Zuständen wie Euphorie, Ekstase und der Selbstentäußerung führt, stellen die Gedichte Benns dieser Handlung eine beobachtend-reflektierende Ebene entgegen.
Der Gropius-Chor steht in Glück stellvertretend für die Zuschauer des Abends, auch für die Gesellschaft, bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Geschichte der Nachtigall ereignet. Wichtig waren deshalb ältere Menschen, die ihre ganz unterschiedlichen individuellen Lebenserfahrungen in das Stück einbringen.
Die Lebenserfahrung und Persönlichkeit der Chorsänger*innen wurden von Juliane Klein auch in gemeinsam zu erarbeitenden Passagen der Partitur selbst genutzt und so zum Bestandteil der musikalischen Struktur der Oper selbst. Gesetzt wird dies bereits in der ersten Szene der Oper, in der jede*r Chorist*in ihre Person in einem frei und individuell gestaltetem ICH vorstellt.
Und in der 3. Szene z.B. haben die Chorist*innen in einer parallel zum auskomponierten Duett zwischen Jungem Mann und Eichbaum angelegten freien Ebene einen oder mehrere persönlich gestaltete Wenn-Sätze zu sprechen, in denen sie aus persönlicher Erfahrung zusammenfassen was sie tun würden, wenn bestimmte Dinge geschehen würden/in der Vergangenheit geschehen werden. Im Vorfeld hat jede*r Chorist*in mehrerer solcher Wenn …, dann …-Sätze erarbeitet, um aus diesem Fundus bei der Aufführung einen (oder mehrere) auswählen und im entsprechenden Zeitfenster frei sprechen zu können.
Hier hat Juliane Klein bereits Modelle des partizipativen Komponierens für das Musiktheater, des sich zur Disposition Stellens des Werkes zugunsten eines in jeder Aufführung wieder neuem musikalischen Zusammenfinden aller Beteiligter erprobt, wie sie es einige Jahre später in ihrem Musiktheater ALLEIN (s.u.) als übergeordnetes Konzept ausformuliert hat.
Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2006 und Juliane Kleins Musiktheater Glück finden Sie hier im Programmheft.
2007 Genoël Rühle, Cathy van Eck und Wolfgang Heiniger
Wanderland
Nachdem bereits 2005 bei den Mesir-Pastillen eine Zusammenarbeit mit der HfM Hanns Eisler praktiziert wurde, kooperierte die Werkstatt Neues Musiktheater 2007 mit Klangzeitort – Institut für Neue Musik der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Bei Wanderland kamen mit Cathy van Eck, Genoël Rühle von Lilienstern und Wolfgang Heiniger zwei Studierende und ein Kompositionsprofessor zu einem Gemeinschaftsprojekt zusammen. Auch die meisten Sänger*innen waren Studierende der beiden Berliner Musikhochschulen.
Neben dem Ensemble Experimente wirkte mit dem Blockflötenorchester der Musikschule Neukölln (heute Berliner Blockflöten Orchester) eine weitere Formation von Laienmusiker*innen mit. Das Blockflötenorchester vereinte erwachsene Schüler*innen der Musikschule. Ähnlich wie der Gropius-Chor in Glück war das Blockflötenorchester nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch präsent.
Im Schnittfeld von Theater, Performance und Installation greifen die unterschiedlichen Kompositionen zu einer Art Stationendrama ineinander. Der Titel des mobilen Musiktheaters Wanderland ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Auf der Handlungsebene geht es in Wanderland um die Ambivalenz zwischen Migration auf der einen, touristischem Reisen auf der anderen Seite.
Gleichzeitig kann der Begriff Wanderland auch ganz konkret auf die Aufführung bezogen werden: Das Publikum wird auch physisch durch die acht Abschnitte von Wanderland geführt, bleibt ständig in Bewegung und wandert durch viele Räume des Saalbaus Neukölln, steht aber auch in der Schlange wie in einer Wartehalle. Wie auf einem Flughafen wird das Publikum von seiner Zielstrebigkeit abgebracht und herum geschoben. Misstrauen allem und jedem gegenüber schleicht sich ein …
Das Thema Migration durchzog 2007 das ganze Programm der Klangwerkstatt – naheliegend bei der Heimat des Festivals in überwiegend migrantisch geprägten Bezirken wie Kreuzberg und Neukölln. Und natürlich ebenso naheliegend bei einer Stadt wie Berlin insgesamt, die gerade auch eine Anziehungskraft auf Künstler*innen in aller Welt hat. Äußerer Anlass war eine kulturpolitische Initiative des Bezirks.
Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2007 und dem Musiktheater Wanderland finden Sie hier im Programmheft.
2012 Juliane Klein
ALLEIN
Ab 2008 stand der Saalbau Neukölln der Klangwerkstatt Berlin als Aufführungsraum nicht mehr zur Verfügung. Dies bedeutete auch das Ende der Werkstatt Neues Musiktheater. Fünf Jahre später gab es mit ALLEIN ein Projekt, dass diese Reihe in gewissem Maße aufgriff und fortsetzte. Das Projekt ging auf die Initiative von Juliane Klein und Holger Müller-Brandes zurück, der Komponistin und dem Regisseur von Glück von 2006.
ALLEIN entwickelt die in Glück bereits angelegten Modelle der Partizipation über den Bereich der Interpretation hinaus und denkt sie bis in die Werkstruktur selbst weiter. Wie schon die Jahre zuvor war auch für ALLEIN das Zusammenbringen von Laien- und Profimusiker*innen zentral. Zwei Gesangssolist*innen sowie ein kleines Instrumentalensemble waren Profis. Im Chor – Zeitgenossen genannt – kamen Sänger*innen aus verschiedensten Berliner Chören, unter anderem abermals aus dem Gropius-Chor der Musikschule Neukölln, zusammen. Ort der Aufführung war der Kirchensaal der Herrnhuter Brüdergemeine in Berlin-Neukölln.
Der Aspekt der Partizipation bezieht sich in ALLEIN auf sämtliche Parameter, angefangen vom Stück selbst bis hin zur konkreten Inszenierung. Alle Beteiligten – ob Profis oder Laien – haben die Berechtigung und Verpflichtung sich individuell und in jeder Aufführung wieder anders in das so immer wieder neu entstehende Werk einzubringen.
Zu ALLEIN gibt es keine Partitur im herkömmlichen Sinne, es ist eine im hohen Maße offene Partitur. Das Stück wird ausschließlich mithilfe von Arbeitsblättern sowie einer Sammlung musikalischen Materials von Juliane Klein in der gemeinsamen Probenarbeit von Regie, Instrumentalist*innen, Sänger*innen und Chor realisiert.
Die Handlung – soweit man in ALLEIN davon sprechen kann – kreist um die Sphäre des modernen Miteinanders von Einzelmenschen zwischen Ungebundenheit, Isolation und anonymen Sehnsüchten. Die Zuschauer befinden sich inmitten von Zeitgenossen, die das Spannungsfeld unserer Gesellschaft von Individuen zum Klingen bringen. ALLEIN reflektiert das Bild einer ambivalenten Gesellschaft: Das Ideal einer vollkommenen Freiheit führt zu einer Drift, in der die aggressive Dynamik sozialer Fliehkräfte und die Einzigartigkeit menschlicher Individualität einander begegnen und eine Wegstrecke von ca. einer Stunde miteinander gehen.
Die Art und Weise, wie das Partizipative zum zentralen Gestaltungselement der Komposition wird, lässt sich am besten an zwei Beispielen zeigen.
Die Vorgaben für die musikalische wie szenische Realisierung der mit 15 bis 20 Minuten Dauer längsten Szene der Oper umfasst gerade einmal sieben Zeilen musikalische Beschreibung und vier Töne! Keine Vorgabe zur genauen Instrumentation. Alle Beteiligten, Chor und Instrumentalisten, Profis und Laien, gestalten gleichberechtigt diese Szene. Mit scheinbar minimalen Vorgaben („Terz ist ein Ton“; erst die Instrumentalisten, dann der Chor und vor allem: „Immer mit Augen zu.“) wird aus dem musikalischen Empfinden jedes Einzelnen und dem intuitiven Zusammenfinden im Klang eine Szene gebaut, über die Barbara Eckle in Die Deutsche Bühne schreibt:
Ähnlich offen ist auch der Schluss von ALLEIN. Zum Ende gibt Juliane Klein die Verantwortung für das musikalische Geschehen endgültig in die Hände der Musiker*innen und Sänger*innen. Es gibt weder einen zugrundeliegenden Text, noch vorgegebene Musik, eine genaue Besetzung oder auch nur eine vorgegebene Dauer – ohne dass diese Szene jedoch zu einer Improvisation gerät: Denn nichts wird mehr hinzugefügt: „Jeder spielt, woran man sich noch erinnert“ – „Was noch in einem drin ist.“ Das musikalische Material ist also klar definiert, am Ende erklingt ein Resümee, das jeder Beteiligte für sich selbst und alle auf der Bühne Agierenden so gemeinsam jedes Mal neu formulieren.
Das bewusste Herausnehmen des „schöpferisch gestaltenden Komponisten“ und das Überantworten an die Mitwirkenden, wie mit der musikalischen Materialsammlung umgegangen wird, führen zu einer ganz neuen Form der Partizipation. Die Ebenen von Profi und Laie, Komponist*in und Interpret*in, Darsteller*in und Zuschauer*in werden aufgelöst (oder verschwimmen zumindest). Das Werk stellt sich selbst zur Disposition und nimmt nur im gemeinschaftlichen (partizipativen) Akt der Komposition / Interpretation / Inszenierung eine jedes Mal wieder neue Gestalt eines doch in der Substanz immer identischen Werkes an.
Weitere Informationen zu ALLEIN finden Sie im Programmheft.