Einblicke in 30 Jahre Klangwerkstatt Berlin
Musikalische Partizipation

Die große Bühne
Werkstatt Neues Musiktheater

Aufführungsfoto der Oper Glück bei der Klangwerkstatt Berlin 2006
Juliane Klein, „Glück“, Klangwerkstatt Berlin 2006

In den Jahren 2005 bis 2007 wurde innerhalb der Klangwerkstatt Berlin mit dem Musiktheater ein neuer Schwerpunkt etabliert. Er entstand in Kooperation mit der Musikschule Paul Hindemith Neukölln und wurde von deren Leiter Volkmar Bussewitz als Projektleitung sowie von dem Akkordeonisten, Dirigenten und Musikschullehrer Gerhard Scherer als künstlerischem Leiter initiiert. Von Beginn an lag der der Fokus der Werkstatt Neues Musiktheater auf der Zusammenarbeit von professionellen Sänger*innen und Regieteam mit jugendlichen wie erwachsenen Laien aus Berlin-Neukölln.

2012 wurde mit einer weiteren Musiktheaterproduktion die Idee eines partizipativen Musiktheaters noch einmal bei der Klangwerkstatt Berlin unter veränderten Vorzeichen aufgegriffen.

Konstante in allen drei Jahrgängen der Werkstatt Neues Musiktheater von 2005 bis 2007 war das von Gerhard Scherer geleitete Ensemble Experimente, das dieser 1999 mit Schüler*innen und Studierenden der Studienvorbereitung an der Neuköllner Musikschule gegründet hatte.

Foto des Ensemble Experimente mit Gerhard Scherer um 2006
Gerhard Scherer und das Ensemble Experimente

Hinzu kam, dass mit dem Saalbau Neukölln (heute Heimathafen Neukölln) ein Raum zur Verfügung stand, der Musiktheaterproduktionen überhaupt erst ermöglichte. Aufgrund seiner Lage mitten in Neukölln schien er wie geschaffen für partizipative Projekte, die aus der Musikschule heraus direkt in den Bezirk hinein wirken wollten!

2005 Georg Katzer, Michael Hirsch, Sinem Altan

Drei Kurzopern

„Die Klangwerkstatt in Berlin Kreuzberg […] hat einen zweiten Fokus bekommen: Im Nachbarkiez Neukölln wird nun die Werkstatt Neues Musik Theater präsentiert. Angebunden an die dortige Musikschule verfolgt auch dieser Strang die Absicht zu integrieren, durch gezielte Schülerarbeit Interesse und Geschmack für die zeitgenössische Musik zu entwickeln. In dem Festival […] steckt vor allem auch Bildungsanspruch und konkrete Anbindung an die Bürger eines Stadtteils darin. Und das gelingt mit Engagement und etwas Improvisation auf hohem Niveau.“
Julia Gerlach, über die Werkstatt Neues Musiktheater 2005, in: NZfM 1/2006, S. 69

Dem ersten Jahrgang der Werkstatt Neues Musiktheater lag die Idee zugrunde, mit drei Kurzopern von Komponist*innen unterschiedlicher Generationen und Herkunft ein möglichst großes ästhetisches Spektrum zeitgenössischen Musiktheaters zu umfassen. Hierfür wurde den drei Komponist*innen auch in der Wahl des Sujets größtmögliche Freiheit gelassen, was zu drei sehr unterschiedlichen Werken führte.

La fabbrica abbandonata

Georg Katzer

Georg Katzer, 1935 in Habelschwerdt (Schlesien) geboren und bis 1989 Bürger der DDR, schrieb mit La fabbrica abbandonata (Die verlassene Fabrik) ein düster-klaustrophobisches Werk, dessen Titel bewusst auf Luigi Nonos La fabbrica illuminata verweist: Thematisierte Nono die entfremdete Arbeit, so ist hier einfach keine Arbeit mehr da!

00:27:24, Georg Katzer, La fabbrica abbandonata UA,
Klangwerkstatt Berlin 2005, Saalbau Neukölln

Die Klage des Pleberio

Michael Hirsch

Michael Hirsch, 1958 in München geboren und seit 1982 in (West-)Berlin lebend, schrieb mit Die Klage des Pleberio eine erste Musiktheater-Kompositionen zu Fernando de Rojas Lesedrama La Celestina aus dem Jahr 1499, der in den folgenden Jahren noch mehrere Kurzopern folgen sollten. Die Klage des Pleberio hat den letzten der 21(!) Akte des spanischen Stückes zum Thema. Es ist ein ausgedehnter Monolog, in dem Pleberio unter dem Eindruck des Selbstmordes seiner Tochter Melibea eine groß angelegte Anklage gegen die Welt formuliert: eine fast „existenzialistische“ Totenklage, die sich jeglichen Tröstungen religiöser Art verweigert.

00:30:41, Michael Hirsch, Die Klage des Pleberio UA,
Klangwerkstatt Berlin 2005, Saalbau Neukölln

In Die Klage des Pleberio hat Michael Hirsch die Idee des Partizipativen bis hin in die Komposition selbst weiter geführt. Mit einer frei notierten Strukturebene nutzt er die kreative Energie des überwiegend aus Musikschülern besetzten Ensemble Experimente für seine Komposition, um eine Komplexität eines Klangbildes zu erreichen, die in ausnotierter Form von Laienmusiker*innen sonst nicht zu realisieren gewesen wären.

„Die Partitur enthält zahlreiche Passagen, in denen nur Notenköpfe notiert sind“, schreibt Hirsch in seinem Werkkommentar. „Diese Stellen sind so zu interpretieren, dass die Spieler die angegebenen Töne innerhalb des Taktes frei verteilen können, in dem sie notiert sind. Alle unrhythmisierten Stellen sind rhythmisch so unregelmäßig wie möglich zu spielen. Das heißt, der Spieler bemüht sich stets um eine möglichst irreguläre, sprunghafte Rhythmisierung, in der die Töne möglichst gegen das Metrum und ohne eigene Periodizität gespielt werden. […] Grundsätzlich ist als musikalisches Ergebnis aller dieser unrhythmisierten Passagen der Eindruck eines quasi Sternenhimmelartigen unregelmäßigen und anti-metrischen Punktechaos anzustreben.“

Abbildung einer Seite aus der Partitur von Michael Hirschs Pleberio
Michael Hirsch, Die Klage des Pleberio, Partiturausschnitt

Mesir-Pastillen

Sinem Altan

Die dritte Kurzoper Mesir-Pastillen stammt von Sinem Altan, 1985 in Ankara geborenen und seit 1996 als Jungstudentin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Die Mesir-Pastillen thematisieren eine der zentralen Erzählungen aus der türkischen Historie: Im Jahr 1522 erkrankte die Frau des Sultan Selim und Mutter des Sultan Süleman I. schwer und wurde durch die Mesir-Pastille, eine erfundene Medizin eines seinerzeit sehr berühmten Arztes und Naturheilers von ihren Leiden geheilt. Der Mesir-Pastille ist in der westtürkischen Stadt Manisa noch heute ein Fest gewidmet!

00:58:46, Sinem Altan, Mesir Pastillen UA,
Klangwerkstatt Berlin 2005, Saalbau Neukölln

Anders als bei den Kurzopern von Michael Hirsch und Georg Katzer, speisen sich die Musiker*innen und Sänger*innen der Mesir-Pastillen aus dem Umfeld der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Mit dem Auftrag für die Komposition einer Oper an eine gerade 20-jährige aus der Türkei stammende Komponistin wurde nicht nur dem musikalischen Nachwuchs eine Stimme gegeben, sondern auch eine Brücke zu dem Umfeld der Uraufführung mit seinem hohen Anteil an türkischstämmiger Bevölkerung geschlagen. Ein Plan, der offenbar aufging, denn zur Uraufführung kamen nicht nur viele neugierige Neuköllner, sondern auch türkische Prominenz, wie der Tagesspiegel berichtet.

„Schwarze Chauffeurlimousinen gehören nicht unbedingt zum Neuköllner Straßenbild, aber zum Abschluss der Klangwerkstatt wurde es richtig feierlich. Der türkische Kulturattaché höchst selbst beehrte den Saalbau Neukölln, denn die Kurzoper Mesir-Pastillen der 20-jährigen Sinem Altan wurde uraufgeführt, und Altan studiert in Berlin als Stipendiatin des türkischen Staates. Sehr zur mutmaßlichen Zufriedenheit des Attachés hat sie eine alt- türkische Geschichte bearbeitet: Schön, wie sie den Wahnsinn der Sultanin in Klänge setzt, gekonnt ihr Umgang mit Stimmen.“
Ulrich Pollmann, „Pillendreher“, Tagesspiegel vom 15.11.2005

Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2005 finden Sie hier im Programmheft.

Programmheft der Werkstatt Neues Musiktheater 2005
27 Bilder, Programmheft (Auszug)
Klangwerkstatt Berlin 2005

2006 Juliane Klein

Glück

Im Jahr 2006 stand ein einziges, abendfüllendes Werk auf dem Programm der Werkstatt Neues Musiktheater: Glück von Juliane Klein. Anders als im Jahr davor lag der partizipative Fokus in Glück auf der Einbeziehung auch erwachsener Laienmusiker*innen. Neben den jugendlichen Musiker*innen des Ensemble Experimente agierte in Glück auch der an der Musikschule Neukölln beheimatete Gropius-Chor in zentraler Funktion auf der Bühne.

Szenenfoto aus Glück mit dem Gropius Chor Berlin
Der Gropius Chor Berlin (Szenenfoto aus Glück)

Juliane Kleins Glück speist sich gleichermaßen aus Oscar Wildes Märchen Die Nachtigall und die Rose wie aus Gedichten Gottfried Benns. Während in Die Nachtigall und die Rose die Liebe im Vordergrund steht, die einen fortreißt aus den gewohnten Zusammenhängen und zu Zuständen wie Euphorie, Ekstase und der Selbstentäußerung führt, stellen die Gedichte Benns dieser Handlung eine beobachtend-reflektierende Ebene entgegen.

„Der Chor besteht aus einer Gruppe von gereiften Persönlichkeiten, die um die tragischen Implikationen der Glücks- und Liebeserwartung wissen, sie erlebt/überlebt haben, sie reflektiert haben, sie fürchten, sich von ihnen distanzieren, andere Wege suchen. Ihre Haltung wird im Gedicht ‚Nur zwei Dinge‘ [von Gottfried Benn] beschrieben:

‚Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was aller erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: Die Leere
und das gezeichnete Ich.‘“
Holger Müller-Brandes (Regisseur), Programmheft zu „Glück“, Klangwerkstatt Berlin 2006

Der Gropius-Chor steht in Glück stellvertretend für die Zuschauer des Abends, auch für die Gesellschaft, bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Geschichte der Nachtigall ereignet. Wichtig waren deshalb ältere Menschen, die ihre ganz unterschiedlichen individuellen Lebenserfahrungen in das Stück einbringen.

01:02:40, Juliane Klein, Glück UA, Klangwerkstatt Berlin 2006,
Saalbau Neukölln

Die Lebenserfahrung und Persönlichkeit der Chorsänger*innen wurden von Juliane Klein auch in gemeinsam zu erarbeitenden Passagen der Partitur selbst genutzt und so zum Bestandteil der musikalischen Struktur der Oper selbst. Gesetzt wird dies bereits in der ersten Szene der Oper, in der jede*r Chorist*in ihre Person in einem frei und individuell gestaltetem ICH vorstellt.

Abbildung eines Partiturausschnittes von Glück
Juliane Klein, Glück, Partiturausschnitt, Szene 1, T. 39ff. (Chor)
Abbildung eines Partiturausschnittes von Glück
Juliane Klein, Glück, Partiturausschnitt, Szene 3, T. 106ff. (Solisten und Chor)

Und in der 3. Szene z.B. haben die Chorist*innen in einer parallel zum auskomponierten Duett zwischen Jungem Mann und Eichbaum angelegten freien Ebene einen oder mehrere persönlich gestaltete Wenn-Sätze zu sprechen, in denen sie aus persönlicher Erfahrung zusammenfassen was sie tun würden, wenn bestimmte Dinge geschehen würden/in der Vergangenheit geschehen werden. Im Vorfeld hat jede*r Chorist*in mehrerer solcher Wenn …, dann …-Sätze erarbeitet, um aus diesem Fundus bei der Aufführung einen (oder mehrere) auswählen und im entsprechenden Zeitfenster frei sprechen zu können.

Hier hat Juliane Klein bereits Modelle des partizipativen Komponierens für das Musiktheater, des sich zur Disposition Stellens des Werkes zugunsten eines in jeder Aufführung wieder neuem musikalischen Zusammenfinden aller Beteiligter erprobt, wie sie es einige Jahre später in ihrem Musiktheater ALLEIN (s.u.) als übergeordnetes Konzept ausformuliert hat.

Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2006 und Juliane Kleins Musiktheater Glück finden Sie hier im Programmheft.

Programmheft der Werkstatt Neues Musiktheater 2006
6 Bilder, Programmheft (Auszug)
Klangwerkstatt Berlin 2006

2007 Genoël Rühle, Cathy van Eck und Wolfgang Heiniger

Wanderland

Nachdem bereits 2005 bei den Mesir-Pastillen eine Zusammenarbeit mit der HfM Hanns Eisler praktiziert wurde, kooperierte die Werkstatt Neues Musiktheater 2007 mit Klangzeitort – Institut für Neue Musik der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Bei Wanderland kamen mit Cathy van Eck, Genoël Rühle von Lilienstern und Wolfgang Heiniger zwei Studierende und ein Kompositionsprofessor zu einem Gemeinschaftsprojekt zusammen. Auch die meisten Sänger*innen waren Studierende der beiden Berliner Musikhochschulen.

Neben dem Ensemble Experimente wirkte mit dem Blockflötenorchester der Musikschule Neukölln (heute Berliner Blockflöten Orchester) eine weitere Formation von Laienmusiker*innen mit. Das Blockflötenorchester vereinte erwachsene Schüler*innen der Musikschule. Ähnlich wie der Gropius-Chor in Glück war das Blockflötenorchester nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch präsent.

Szenenfoto aus Wanderland mit dem Berliner Blockflöten Orchester
Wanderland, Szene Irrenhaus Hoffnung von Genoël Rühle, Szenenfoto mit Mitgliedern des Berliner Blockflöten Orchester

Im Schnittfeld von Theater, Performance und Installation greifen die unterschiedlichen Kompositionen zu einer Art Stationendrama ineinander. Der Titel des mobilen Musiktheaters Wanderland ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Auf der Handlungsebene geht es in Wanderland um die Ambivalenz zwischen Migration auf der einen, touristischem Reisen auf der anderen Seite.

„Migration und Reisen sind sich in einem gleich: Sie sind Hoffnungen in Bewegung. Sie sind mobile Formen des Wartens. Und weil jede Erfüllung einer Hoffnung das Ende der Hoffnung ist, wird das Erreichen des Ziels enttäuschen müssen. Besser ist es also, weiter zu warten und dabei irgendwie vorwärts zu kommen, weiter immer weiter … Am Ende aber kommt sie doch noch, die Oper: als Drama des Ankommens am Ziel aller Träume. Aber glauben Sie wirklich, dass damit alles gut ist?“
Wolfgang Heiniger, „Zu Wanderland“, Programmheft Klangwerkstatt Berlin 2007

Gleichzeitig kann der Begriff Wanderland auch ganz konkret auf die Aufführung bezogen werden: Das Publikum wird auch physisch durch die acht Abschnitte von Wanderland geführt, bleibt ständig in Bewegung und wandert durch viele Räume des Saalbaus Neukölln, steht aber auch in der Schlange wie in einer Wartehalle. Wie auf einem Flughafen wird das Publikum von seiner Zielstrebigkeit abgebracht und herum geschoben. Misstrauen allem und jedem gegenüber schleicht sich ein …

00:02:56, van Eck, Rühle, Heiniger, Wanderland UA (Ausschnitt),
Klangwerkstatt Berlin 2007, Saalbau Neukölln

Das Thema Migration durchzog 2007 das ganze Programm der Klangwerkstatt – naheliegend bei der Heimat des Festivals in überwiegend migrantisch geprägten Bezirken wie Kreuzberg und Neukölln. Und natürlich ebenso naheliegend bei einer Stadt wie Berlin insgesamt, die gerade auch eine Anziehungskraft auf Künstler*innen in aller Welt hat. Äußerer Anlass war eine kulturpolitische Initiative des Bezirks.

„Im Moment ist gerade so ein Evaluationsprozess im Gange, wo alle Veranstaltungen, die vom Bezirk gefördert werden, getestet werden, ob dieses Thema auch genügend abgedeckt ist. Und es ist ein bisschen ein Spaß von mir, dass ich gesagt habe: O.K., jetzt schreiben wirs obendrüber. Wir machen das sowieso immer, weil alle neu Ankommenden in Kreuzberg und Berlin finden hier ihr Podium, Komponisten, die aus aller Welt neu nach Berlin kommen, Instrumentalisten, die noch nicht so bekannt sind, die jung sind, die unterstützen wir.“
Michael Beil (Leiter der Klangwerkstatt Berlin 2007), zit. nach „positionen. Beiträge zur Neuen Musik“, 74 (2008)

Weitere Informationen zu der Werkstatt Neues Musiktheater 2007 und dem Musiktheater Wanderland finden Sie hier im Programmheft.

Programmheft der Werkstatt Neues Musiktheater 2007
10 Bilder, Programmheft (Auszug)
Klangwerkstatt Berlin 2007

2012 Juliane Klein

ALLEIN

Ab 2008 stand der Saalbau Neukölln der Klangwerkstatt Berlin als Aufführungsraum nicht mehr zur Verfügung. Dies bedeutete auch das Ende der Werkstatt Neues Musiktheater. Fünf Jahre später gab es mit ALLEIN ein Projekt, dass diese Reihe in gewissem Maße aufgriff und fortsetzte. Das Projekt ging auf die Initiative von Juliane Klein und Holger Müller-Brandes zurück, der Komponistin und dem Regisseur von Glück von 2006.

ALLEIN entwickelt die in Glück bereits angelegten Modelle der Partizipation über den Bereich der Interpretation hinaus und denkt sie bis in die Werkstruktur selbst weiter. Wie schon die Jahre zuvor war auch für ALLEIN das Zusammenbringen von Laien- und Profimusiker*innen zentral. Zwei Gesangssolist*innen sowie ein kleines Instrumentalensemble waren Profis. Im Chor – Zeitgenossen genannt – kamen Sänger*innen aus verschiedensten Berliner Chören, unter anderem abermals aus dem Gropius-Chor der Musikschule Neukölln, zusammen. Ort der Aufführung war der Kirchensaal der Herrnhuter Brüdergemeine in Berlin-Neukölln.

Abbildung Programmflyer von ALLEIN
Programmflyer ALLEIN, eine Grundriss-Zeichnung der Brüdergemeine Berlin-Neukölln verwendend

Der Aspekt der Partizipation bezieht sich in ALLEIN auf sämtliche Parameter, angefangen vom Stück selbst bis hin zur konkreten Inszenierung. Alle Beteiligten – ob Profis oder Laien – haben die Berechtigung und Verpflichtung sich individuell und in jeder Aufführung wieder anders in das so immer wieder neu entstehende Werk einzubringen.
Zu ALLEIN gibt es keine Partitur im herkömmlichen Sinne, es ist eine im hohen Maße offene Partitur. Das Stück wird ausschließlich mithilfe von Arbeitsblättern sowie einer Sammlung musikalischen Materials von Juliane Klein in der gemeinsamen Probenarbeit von Regie, Instrumentalist*innen, Sänger*innen und Chor realisiert.

„Die gleichberechtigte Gemeinschaft in der Musik hat sich in den vergangenen Jahrhunderten speziell in der europäischen Kunstmusik zunehmend aufgelöst. Hierarchische Strukturen treten an ihre Stelle: durch die Trennung von Komponist und Interpret, von Dirigent und Musiker, von Spieler und Zuhörer. Trotz des gemeinsamen Musizierens bleibt der Interpret in der Auseinandersetzung mit dem exakt notierten Notentext, der Befolgung der Absichten des Komponisten oder der Befolgung der Anweisungen eines Dirigenten zumeist auf sich geworfen, allein. Gemeinschaftlichkeit stellt sich nur schwer ein.
Juliane Klein durchbricht in ALLEIN diese festgefahrenen Strukturen. Die Realisierung des Musiktheaters bedeutet Musizieren ohne Noten. Keine ausnotierte Partitur bildet mehr die Grundlage, vielmehr gibt Juliane Klein ein szenisch-inhaltliches Gerüst sowie ein sehr präzises, aber äußerst knapp formuliertes musikalisches Material vor, das in der gemeinsamen Arbeit aller Beteiligten realisiert werden muss. Sie gibt damit den Musikern Verantwortung im Musizieren, im Schöpferischen zurück – Verantwortung eines jeden Musizierenden, der Profis wie der Laien, in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Material und der gleichzeitigen Einbeziehung aller anderen Mitmusiker.
Autonomie und Gemeinschaftlichkeit, das Thema des Stückes, ist damit auch dem Wesen seiner Musik eingeschrieben.“
Nina Ermlich, Programmheft zu „ALLEIN“
Szenenfotos der Uraufführung von ALLEIN
4 Bilder, Juliane Klein, ALLEIN UA, Szenenfotos,
Klangwerkstatt Berlin 2012, Brüdergemeine Neukölln

Die Handlung – soweit man in ALLEIN davon sprechen kann – kreist um die Sphäre des modernen Miteinanders von Einzelmenschen zwischen Ungebundenheit, Isolation und anonymen Sehnsüchten. Die Zuschauer befinden sich inmitten von Zeitgenossen, die das Spannungsfeld unserer Gesellschaft von Individuen zum Klingen bringen. ALLEIN reflektiert das Bild einer ambivalenten Gesellschaft: Das Ideal einer vollkommenen Freiheit führt zu einer Drift, in der die aggressive Dynamik sozialer Fliehkräfte und die Einzigartigkeit menschlicher Individualität einander begegnen und eine Wegstrecke von ca. einer Stunde miteinander gehen.

Die Art und Weise, wie das Partizipative zum zentralen Gestaltungselement der Komposition wird, lässt sich am besten an zwei Beispielen zeigen.

Die Vorgaben für die musikalische wie szenische Realisierung der mit 15 bis 20 Minuten Dauer längsten Szene der Oper umfasst gerade einmal sieben Zeilen musikalische Beschreibung und vier Töne! Keine Vorgabe zur genauen Instrumentation. Alle Beteiligten, Chor und Instrumentalisten, Profis und Laien, gestalten gleichberechtigt diese Szene. Mit scheinbar minimalen Vorgaben („Terz ist ein Ton“; erst die Instrumentalisten, dann der Chor und vor allem: „Immer mit Augen zu.“) wird aus dem musikalischen Empfinden jedes Einzelnen und dem intuitiven Zusammenfinden im Klang eine Szene gebaut, über die Barbara Eckle in Die Deutsche Bühne schreibt:

Abbildung der Szene 7 aus dem Arbeitsheft zu ALLEIN
Arbeitsheft zu ALLEIN, Szene 7
„Herz und Schlüssel des Konzepts offenbaren sich in einer Szene, die einzig die Anweisung gibt: Mit geschlossenen Augen musizieren. Es ist eine exemplarische Einlösung der Hypothese: Vertrauen in sich selbst ist Vertrauen in alle. Hier, wo nichts dargestellt wird, verschmelzen Individuum und Kollektiv, Laie und Profi, Künstler und Zuschauer tatsächlich perfekt. In minutenlang atmendem Klang geht alles in Raum und Klang auf. Ein luzider Augenblick, gewaltig und intim.“
Barbara Eckle, Die Deutsche Bühne online vom 08.11.2012

Ähnlich offen ist auch der Schluss von ALLEIN. Zum Ende gibt Juliane Klein die Verantwortung für das musikalische Geschehen endgültig in die Hände der Musiker*innen und Sänger*innen. Es gibt weder einen zugrundeliegenden Text, noch vorgegebene Musik, eine genaue Besetzung oder auch nur eine vorgegebene Dauer – ohne dass diese Szene jedoch zu einer Improvisation gerät: Denn nichts wird mehr hinzugefügt: „Jeder spielt, woran man sich noch erinnert“ – „Was noch in einem drin ist.“ Das musikalische Material ist also klar definiert, am Ende erklingt ein Resümee, das jeder Beteiligte für sich selbst und alle auf der Bühne Agierenden so gemeinsam jedes Mal neu formulieren.

Abbildung der Szene 9 aus dem Arbeitsheft zu ALLEIN
Arbeitsheft zu ALLEIN, Szene 9

Das bewusste Herausnehmen des „schöpferisch gestaltenden Komponisten“ und das Überantworten an die Mitwirkenden, wie mit der musikalischen Materialsammlung umgegangen wird, führen zu einer ganz neuen Form der Partizipation. Die Ebenen von Profi und Laie, Komponist*in und Interpret*in, Darsteller*in und Zuschauer*in werden aufgelöst (oder verschwimmen zumindest). Das Werk stellt sich selbst zur Disposition und nimmt nur im gemeinschaftlichen (partizipativen) Akt der Komposition / Interpretation / Inszenierung eine jedes Mal wieder neue Gestalt eines doch in der Substanz immer identischen Werkes an.

Weitere Informationen zu ALLEIN finden Sie im Programmheft.

Abbildung des Programmhefts von ALLEIN
8 Bilder, Programmheft ALLEIN,
Klangwerkstatt Berlin 2012