Einblicke in 30 Jahre Klangwerkstatt Berlin
Musikalische Partizipation
Neue Musik in Kreuzberg
Der Anfang
Die Gründung der Klangwerkstatt Berlin, die im März 1990 unter dem Namen Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg erstmals stattfand, ist eng verbunden mit der Gründung des Ensemble Zwischentöne durch Peter Ablinger zwei Jahre zuvor. Die ästhetische Prämissen des Ensembles, die sich durch die Zusammenarbeit von Lai*innen und Profis ergaben, wurden zur Keimzelle des neu entstehenden Festivals.
1988 – 1989 Vorspiel
Ein Aushang in der Musikschule
Werkstatt oder Festival? Oder besser: Werkstatt als Festival? Letzteres dürfte der eigentliche Impuls für die Gründung der Klangwerkstatt gewesen sein. Ein Raum für Experimente, Erkundungen, Erfahrungen und Erlebnisse. Ein Ort zum Hinhören, zum Lauschen und zum Nachdenken. Eine Umgebung zum Kennenlernen und zum Weitermachen.
Allem voraus ging ein neugieriger, engagierter Aufruf des Komponisten und Musikschullehrers Peter Ablinger an seine Kolleg*innen. Sie alle sollten Schüler*innen und Interessierte auf einen Kurs für Neue Musik ab Frühjahr 1989 aufmerksam machen. Ein Aufruf für einen Musikschulkurs, nichts unübliches, oder doch?
Ablingers Aufruf war Ende der 1980er Jahre wohl ein Novum für eine Musikschule: ein Kurs für Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken. Musikschulschüler*innen und Interessierte waren gleichermaßen eingeladen, klangliche und spieltechnische Möglichkeiten zu erforschen. Genres und persönliche Fähigkeiten auf dem Instrument oder in der Stimme spielten keine Rolle. Virtuos*innen sollten mit Lai*innen und Jazzer*innen mit Klassiker*innen zusammentreffen, um Konzepte und Stücke zu erproben, zu entwickeln und aufzuführen.
1990 Gründung
Ein produktives Missverständnis
Dieser Kurs und das Konzert des Kursensembles im Juni ’89 waren Initialzünder. Michael Schwinger, der damalige Musikschulleiter, wollte mehr: Mehr Neue Musik, mehr Schüler*innen mit Neuer Musik, mehr Musikschule mit Berliner Szene. Schwinger bot Ablinger ein Honorar für ein Konzert an. Ein Konzert, das die Möglichkeiten der Musikschule im Bereich Neuer Musik auslotete.
Anstelle eines klassischen Musikschulkonzerts für Eltern und Schüler*innen dachte Ablinger größer. Er kombinierte Musikschulprojekte mit professionellen Akteur*innen und Ensembles der Neue Musikszene. Das Geld ermöglichte es, Musiker*innen der Berliner Szenen einzubinden, Workshops zu veranstalten und Kompositionsaufträge für die Musikschulensembles zu vergeben. Bereits ein halbes Jahr später, im März 1990, stand so ein zweitägiges Programm.
Vier Monate nach dem Fall der Berliner Mauer öffneten sich die Türen für die erste Klangwerkstatt in Berlin-Kreuzberg. Neugierige Ohren richteten sich auf die Suche nach den Zwischentönen, denn so sollte das Festival eigentlich heißen.
Die Klangwerkstatt war ein richtiges Ereignis. Es war vor allem aber auch eine der ersten Kulturveranstaltungen, die den Kontakt in die Neue Musikszene des Ostens der Stadt suchte. Auf dem Programm standen bereits 1990 Werke von Georg Katzer und in den folgenden Jahrgängen von Friedrich Goldmann, Jakob Ullmann, Reiner Bredemeyer, Helmut Zapf u. v. a. m. Die Klangwerkstatt erhielt aufgrund ihrer Konzeption und ihrem verbindenden Engagement, so etwa im Falle der Neue Musikszene von West- und Ost-Berlin, natürlich auch ein wachsendes Medienecho.
Es war Peter Ablinger mit der Klangwerkstatt gelungen, einen musikalischen Freiraum zu schaffen. Ein Raum mit Neuer und experimenteller Musik, in dem sich die Kleinsten der Musikschule mit interessierten Lai*innen und professionellen Musiker*innen oder Komponist*innen der Stadt trafen. Sie suchten gemeinsam nach den Zwischentönen in der Musik und im Musizieren. Ein Festival oder besser eine Werkstatt mit Konzerten, Gesprächen und Raum zum Probieren. Ein Ort musikalischer Vielfalt über die Genregrenzen hinweg. Nicht zuletzt mit einer Musikschule, die Offenheit zeigte und einforderte. Eine Musikschule oder besser die erste Musikschule, die ein Festival für Neue Musik ins Leben gerufen hat und damit auch in pädagogischen Kreisen viel Beachtung erhielt.
1991 – 1994 Ein neues Festival
Die Werkstatt mit Zwischentönen verstetigt sich
Für die ersten drei Jahrgänge hatte Peter Ablinger die Gesamtleitung der Klangwerkstatt inne. Ihm folgten Orm Finnendahl, Michael Beil und Stefan Streich. Alles Künstler, die bis heute versuchen, den Charakter des Experimentellen, des offenen Ohres, des Miteinander von Lai*innen und professionellen Musiker*innen sowie des partizipativen Stadtteilfestivals zu erhalten. Neben dem Ballhaus Naunynstraße waren es Aufführungsorte im Künstlerhaus (heute: Kunstquartier) Bethanien, die die Nähe zur Musikschule präsent machten. Dies zeigt sich bis heute in den Kinder- und Jugendkonzerten oder -workshops, die seit Beginn fester Bestandteil der Festivalprogramme sind.
Bereits die ersten Jahrgänge zeigen ein atemberaubendes Festival: Kinderkonzerte, Workshops, Ensembleabende, Konzerte mit elektronischer Musik u. v. m. Dabei standen Stücke aus den Bereichen der Neue Musik, Improvisation, Jazz, experimentelle Musik, elektronische Musik und Performance auf dem Programm.
Die Klangwerkstatt repräsentierte umfassend den „Musikschauplatz Berlin“, wie Thomas Schröder in einer Rezension der Klangwerkstatt 1991 in der taz schrieb: Die Aktivitäten der Musikschule Kreuzberg standen neben Arbeiten Berliner Musikstudent*innen, von Komponist*innen aus Ost-Berlin und den fünf neuen Bundesländern sowie der zahlreichen in West-Berlin lebenden Komponist*innen.
Von der 1. Klangwerkstatt gab es lediglich eine Besprechung. Dies änderte sich jedoch rasch mit jedem weiteren Jahrgang. Bereits im zweiten und dritten Jahr gab es zahlreiche Rezensionen – von der Tagespresse wie der taz, dem tagesspiegel u. a. bis hin zur Fachpresse wie der neuen musikzeitung (nmz) oder Üben & Musizieren.
Auf die Frage nach den Künstler*innen, die die ersten Jahre der Klangwerkstatt geprägt haben, verwies Peter Ablinger insbesondere auf Sven-Åke Johansson. Der Musiker, geboren 1943 in Schweden und seit Ende der 1960er Jahre in Berlin lebend, ist einer der stilprägenden Schlagzeuger der deutschen Free Jazz-Ära der 60er und 70er Jahre und verfolgte ab den 80er Jahren einen weitestgehend von Institutionen und Gruppierungen unabhängigen künstlerischen Weg als Musik-Performer, zunehmend in den Kreisen Bildender Kunst und Neuer Musik.
Bereits im Programm der ersten Klangwerkstatt findet sich Sven-Åke Johansson mehrfach – sowohl als Performer bei der Uraufführung von Peter Ablingers Stück Ins Nasse (Aria al Fresco) als auch als Komponist. Zur Aufführung kam von Johansson die Italienische Verkehrsverständigung. Das Stück ahmt, wie Johansson schreibt, „die Hupsignale der italienischen Autofahrer einer sizilianischen Kleinstadt nach:
1. Vorsicht
2. Aus dem Weg
3. Hallo, wie geht’s
geordnet und gemessen nach musikalischen Bausteinen.“
Peter Ablinger legte mit seinen Ideen von einem Festival Neuer und experimenteller Musik den Grundstein für drei Jahrzehnte Klangwerkstatt Berlin. In Berlin das am längsten, kontinuierlich stattfindende Festival zeitgenössischer Musik. Seit Beginn gehörte das Zusammenwirken von Laiinnen und Profimusikerinnen zu den Leitideen. Klangwerkstatt Berlin war immer schon mehr als eine Reihe von Konzerten, es war experimenteller Freiraum und Austausch. Klangwerkstatt Berlin suchte nach neuen Erfahrungen, Klängen und Formen der musikalisch künstlerischen Interaktion. Dies zeigt auch die Konzeption der 4. Klangwerkstatt 1993, auch wenn sie in dieser Form nicht realisiert wurde.
Die Klangwerkstatt Berlin war und ist ein Raum für das Ausprobieren, Experimentieren und die Suche nach den Zwischentönen eines scheinbar unendlichen, akustischen Horizonts. In drei Jahrzehnten hat das Festival mehr als 1600 Uraufführungen erprobt und auf die Bühne gebracht. Vor allem ist die Klangwerkstatt Berlin aber ein Ort für das Zusammenspiel von Lai*innen und professionellen Musiker*innen und nicht zuletzt den offenen Dialog über Hör- und Musiziererfahrungen.