Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Freitag 17.11., 20.00 Uhr – Videodokumentation

Lux Aeterna. Psalms of Falling

Vokalensemble Alter Ratio

Bild vom Vokalensemble Alter Ratio
© Max Busel

Programm

  • György Ligeti
    Lux Aeterna(1966)
    für 16-stimmigen gemischten Chor (Version für 12-stimmiges Vokalensemble und Elektronik)
  • Alla Zagaykevych
    Psalms of FallingUA(2023)
    for vocal ensemble and electronics on a text by Iya Kywa
  • Maxim Kolomiiets
    Disappearing voicesUA(2023)
    for vocal ensemble and electronics on a text by Viktor Rekalo
  • Peter Kerkelov
    phos-phorusUA(2023)
    for vocal ensemble and electronics
  • Maxim Shalygin
    Sub RosaUA(2023)
    for vocal ensemble and electronics on a text of Robert Frost
  • Interview
    Olga Prykhodko im Gespräch mit Leonie Reineke

Vokalensemble Alter Ratio

Olena Svyshch, Olena Grytsiuk, Anna Dvorytska – Sopran | Olena Tsygankova, Kateryna Ryzuniak, Liliia Omelchuk – Alt | Serhiy Myronenko, Mykola Avdieiev, Maksym Kovalchuk – Tenor | Mykhailo Vandalovskyi, Ruslan Kirsh, Oleksandr Dmytriiev – Bass
Leitung: Olga Prykhodko
Im Anschluss des Konzertes Gespräch mit den beteiligten Künstler:innen, Moderation Leonie Reineke


Mit dem Vokalensemble für zeitgenössische Musik Alter Ratio ist erneut ein herausragendes Ensemble aus der Ukraine zu Gast bei der Klangwerkstatt Berlin. Im Zeichen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist es uns wichtig, der ukrainischen zeitgenössischen Musik einen Raum zu geben und Kunst und Kultur der Ukraine sichtbar zu machen. Alter Ratio wurde 2010 gegründet und ist ursprünglich in Kyiv beheimatet. Aktuell leben die Mitglieder des Vokalensembles teils in der Ukraine, teils verstreut in Europa – u.a. in Berlin, wie beispielsweise die Leiterin Olga Prykhodko.

Olga Prykhodko schreibt: „In der Situation des andauernden Krieges haben ukrainische Musiker:innen die besondere Aufgabe, an der ‚kulturellen Frontlinie‘ zu bleiben. Es ist wichtig, im Sinne der Kulturdiplomatie einen kulturellen Dialog mit der Welt zu führen, die Wahrheit über die Situation in der Ukraine und das Recht der Ukrainer auf Freiheit, Würde und eine unabhängige Existenz zu vermitteln, wozu auch die Erhaltung und Förderung unserer kulturellen Identität gehört.
Für ukrainische Künstler:innen und Kulturaktivist:innen ist es heute wichtiger denn je, ihre beruflichen Aktivitäten fortzusetzen, ihr kreatives Potenzial zu stärken, neue Erfahrungen zu sammeln und ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.
Eine weitere wichtige Aufgabe besteht darin, die Zusammenarbeit mit europäischen und internationalen Partner:inen und Kolleg:innen fortzusetzen und zu verstärken und ihr Netzwerk zu erweitern, um so die ‚Gemeinschaft der Kulturförderer‘ der Ukraine zu formen und eine starke Grundlage für die künftige kulturelle Wiederbelebung des Landes zu schaffen.“

Anlässlich des 100. Geburtstages des Komponisten György Ligeti ist sein Meisterwerk Lux Aeterna (1966) Ausgangspunkt des Programms. Die 16-stimmige Vokalkomposition gilt als Wendepunkt in der Vokalmusik: schwebende Klangflächen, Auflösung des Rhythmus zugunsten des befreiten Raums. All das entwickelt einen magischen Sog, der damals revolutionär war. Das ukrainische Vokalensemble Alter Ratio präsentiert Lux Aeterna in einer Fassung, die vier der 16 Stimmen durch Elektronik ersetzt – auch als Zeichen für und im Gedenken an die fehlenden Stimmen der im Krieg getöteten ukrainischen Künstler:innen und Menschen.

Daran knüpfen neue Werke für Vokalensemble und Elektronik der ukrainischen und bulgarischen Komponist:innen Peter Kerkelov, Alla Zagaykevych, Maxim Kolomiiets und Maxim Shalygin an, die sowohl musikalisch als auch inhaltlich Ligetis Ewigkeitsmusik aufgreifen und die vielfältigen Facetten heutiger ukrainischer Musik zeigen.

Alle Stücke experimentieren auf dem Gebiet der Kombination von akustischem Live-Klang eines A-cappella-Vokalensembles und Elektronik. Jeder der Komponist:innen setzt die Elektronik auf eine eigene Art und Weise ein – dazu gehören, neben der einfachen Verbindung von Stimme und Tonband, die Kombination und Suche nach Live-Klangfarben, die Konstruktion neuer Klangfarben auf der Grundlage von Datensynthese, elektronischer Stimmverarbeitung in Echtzeit u.a.m.

György Ligeti: Lux Aeterna (1966)
(…) Dem Text nach hängt das Stück eng zusammen mit meinem zwei Jahre früher entstandenen Requiem, in dem ich nicht die gesamte Totenmesse, sondern nur die Teile Introitus, Kyrie, Dies irae und Lacrimosa vertont habe. Musikalisch aber gehören die beiden Stücke nicht unmittelbar zusammen, da das Requiem für eine größere Besetzung (zwei Solisten, zwei Chöre und Orchester), Lux aeterna hingegen für einen A-cappella-Chor bestimmt ist. Darüber hinaus gibt es auch gewisse stilistische Unterschiede: Das Requiem hat eine vorwiegend chromatische Struktur, Lux aeterna dagegen beruht auf einer quasi-diatonischen Harmonik – chromatische Wendungen spielen hier nur eine untergeordnete Rolle.

Gleichwohl bestehen gewisse musikalische Verwandtschaften und Zusammenhänge zwischen beiden Kompositionen. Die musikalische Vorstellung des „ewigen Lichts“, eines Zustands, der immer da war, sich kaum verändert und immer fortdauern wird, geht auf eine Parallelstelle im Requiem zurück: Die Textzeile „Et lux perpetua luceat eis“ aus dem Introitus ist auf ganz ähnliche Weise komponiert, Lux aeterna ist also eine Weiterentwicklung der musikalischen Konzeption dieser Introitus-Passage.

Als in sich geschlossene Komposition hat Lux aeterna selbstverständlich einen Anfang und ein Ende, und obwohl der gesamte Habitus der Musik statisch ist, vollziehen sich doch allmähliche Veränderungen. Evoziert wird die Vorstellung von Unendlichkeit, erweckt wird der Eindruck, dass die Musik bereits da war, als wir sie noch nicht hörten, und immer fortdauern wird, auch wenn wir sie nicht mehr hören. Als ob ein Fenster geöffnet und wieder geschlossen würde: Die Landschaft, die im offenen Fenster erscheint, bleibt auch bei geschlossenem Fenster unverändert, sie war jedoch nur eine Zeitlang sichtbar. So sind Anfang und Ende der Komposition lediglich virtuelle Grenzen einer an sich unendlichen Musik und die musikalischen Vorgänge und Veränderungen nur imaginäre Aspekte des Unveränderlichen: Die immer gegenwärtige, in sich unbewegte Landschaft ist gewissermaßen nicht sofort in ihrer Gesamtheit erfassbar, vielmehr entdeckt man darin immer neue Regionen, die freilich schon da waren, als man sie noch nicht wahrnahm. Nicht die Landschaft, sondern die Wahrnehmung verändert sich. (…)
György Ligeti

Alla Zagaykevych: Psalms of Falling (2023) UA
Langsame Bewegung nach oben – dem Licht entgegen, dem ewigen Licht …
Diese Bewegungsmetaphorik in Ligetis Lux Aeterna ist sehr ausdrucksstark. Greifbar, total. Wie kann man das Gefühl der Bewegung (hin zum Leben, weg vom Tod) vermitteln – täglich, permanent? Von Hoffnung und Verzweiflung?

Psalms of Falling basiert auf der Idee, Bewegung im Raum in verschiedenen Richtungen zu spüren, manchmal fast unmerklich, manchmal sehr greifbar.

Iya Kivas Kriegsgedichte enthalten viele solcher Metaphern der Bewegung:

„Wir gehen hoch hinauf zu den Glocken des Himmels …
Ich sehe nicht, worauf ich stehe
ich falle einfach in den Schlaf
in den Schlaf fallend
Ich falle in den Schlaf
und falle in den Schlaf“

„Alle Psalmen des Falls sind ein Schatten der Angst, die uns zuerst verlassen hat.“
Alla Zagaykevych

Maxim Kolomiiets: Disappearing voices (2023) UA
Disappearing voices ist ein Stück, das auf Texten von Viktor Rekalo, meinem alten Freund, basiert. Es war mir wichtig, Worte zu finden, die mit meinem eigenen inneren Zustand übereinstimmen und meine Gefühle widerspiegeln. Das Werk sollte etwas Sanftes, Zerbrechliches werden. Es musste sich auflösen wie Eis in Regentropfen. Dies ist eine Art Metapher für die Erfahrungen der letzten Monate im Zusammenhang mit dem Krieg. Jeden Tag sehen wir die Welt, an die wir gewöhnt sind, verschwinden. Es ist, als ob die Stimmen unserer Leute, die an der Front oder unter Bombardierungen sterben, im Abgrund verschwinden. Und diese unsere prekäre Lage verursacht ein besonderes Gefühl der Angst, der Beklemmung und des drohenden Chaos. Und gleichzeitig ein Gefühl der unendlichen Liebe zu dieser Welt. Aber gerade deshalb war es mir wichtig, dieses einzigartige, wenn auch unheimliche Gefühl einzufangen. Als ob ich es in Bernstein einschließen wollte, um es von mir selbst zu trennen, um es äußerlich, sicher und schmerzlos zu machen, um es zu entwaffnen. Um so all die verschwindenden Stimmen unserer Welt zu verewigen, die in Dunkelheit zerfließt.
Maxim Kolomiiets

Peter Kerkelov: phos-phorus (2023) UA
Ich glaube, dass das menschliche Leben, auch wenn es nicht mehr auf der Erde ist, Licht auf uns, die Lebenden, ausstrahlt. So wie Phosphor, der in der Dunkelheit leuchtet. Die Toten leuchten uns durch ihre guten Taten und ihr Leid, durch ihre Fehler und Entscheidungen einen Weg, auf dem wir unserem eigenen Licht entgegengehen. Nur so können wir eines Tages die Fackel übernehmen.

Es ist schwer, diese Gedanken in Worte zu fassen, aber manchmal ist das auch gar nicht nötig. Ein Wort ist so viel mehr als seine vermeintliche Bedeutung. Ich glaube, dass jedes Wort ein Klang von allem ist, was uns umgibt, ein Bild von Assoziationen, eine Sammlung von Bedeutungen, ein Gemälde von vielen Bildern. Deshalb bestehen die Texte in diesem Stück aus fliegenden Phrasen aus verschiedenen, nicht zusammenhängenden Gedichten oder frei schwebenden Wörtern, die auf eine Art und Weise kombiniert werden, die versucht, die Empfindung des gedämpften und warmen Lichts zu beschreiben, das von denen ausgeht, die gegangen sind. Der Text ist so aufgebaut, dass er zeigen soll, dass unabhängig von Nationalität und Kultur diese Fäden uns verbinden, egal ob wir leben oder tot sind.

Dieses Stück geht an alle ukrainischen Seelen, die trotz ihres tragischen Verlustes in diesen Zeiten der Dunkelheit unsere Lichtträger bleiben.
Peter Kerkelov

Maxim Shalygin: Sub Rosa (2023) UA
Das Werk ist eine Reise der melodischen Linie durch die Labyrinthe des Textes und der Harmonie. In den Abgründen dieser Labyrinthe durchläuft die Melodie viele Verwandlungen, von extrem vereinfachten diatonischen bis zu düsteren polytonalen Schichten, die sie zu erdrücken scheinen. Die Partitur ist mit Polyphonie im weitesten Sinne des Wortes gesättigt. Der elektroakustische Teil beginnt als Begleitung der Melodie, entwickelt sich aber weiter zu einer Linie, die dem dramaturgischen Geschehen folgt … Glocken in verschiedenen Formen erscheinen in voller Blüte und die Entwicklung ihres Klangs erreicht die surrealsten Verzerrungen.
Maxim Shalygin

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